Zero — Ende des Regens und Anfang der Blume

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Regnerische Tage sind immer die schlimmsten, dachte ich, während ich nach draußen sah und den Platzregen betrachtete.

Jedoch konnte ich nicht anders als zu kichern, während ich darüber nachdachte, denn heitere Tage waren nicht besser.

„Was ist… los?“

Eine kaum hörbare Stimme erhob sich neben mir und durchbrach den Klang des Regens.

„Du… Weinst du etwa?“

„Da liegst du falsch. Ich lache.“

Es war kein Wunder, dass das Mädchen meine Reaktion missverstand. Schließlich konnte sie nicht sehen. Als ein Bestandteil ihrer Folter hatte man ihr die Augäpfel mit einer Nadel ausgestochen. Zudem war ihr heißes Eisen in die Handflächen und auf die Fußsohlen gepresst worden, sodass sie nur noch nach verbranntem Fleisch stank. Des Weiteren hatte man die Sehnen ihrer Arme und Beine durchtrennt, sie konnte sich nicht einmal selbst auf die Seite rollen. Das Standardprogramm der Folterprozedur.

Zusammen mit vier Freundinnen hatte das Mädchen sich gegen den korrupten Herrscher des Landes verschworen. Aber sie wurden festgenommen, bevor sie etwas in Angriff nehmen konnten, von einem Verräter ausgeliefert. Sie hätten es ahnen müssen. Es existierte kein Mensch, der einen nicht ans Messer lieferte, wenn es einen ausreichenden Grund dafür gäbe.

Jedenfalls wurden alle fünf Mädchen gefasst und der Folter ausgesetzt. Man sagte ihnen, ihr Leben würde verschont, wenn sie gestünden, aber natürlich war es eine Lüge. Ob sie ihren Mund aufmachten oder nicht, das Resultat wäre dasselbe gewesen.

Die eine Sache, die ich mir wünschte, der Landesherr hätte sie nicht getan, war, mich, eine wahllose Massenmörderin, ins gleiche Verlies wie diese Freiheitskämpfer zu stecken. Ich war anders als diese Mädchen. Ich hatte nichts zu gestehen, keine Pläne oder Komplizen. Daher wurde ich nicht gefoltert, sondern nur mit ein paar Peitschenschlägen bedacht. Die Knochen der Mädchen waren gebrochen worden, ihre Fingernägel ausgerissen; Ich dagegen hatte nur ein paar Narben auf meinem Rücken, deren Schmerzen längst verblasst waren. Ich empfand keine Qualen, nicht einmal die Kälte des Regens. Seltsam, wenn ich bedachte, dass ich bald sterben würde.

„Was für ein wertloses Leben…“

Ich konnte nicht aufhören zu lachen. Es hatte für mich nicht einen glücklichen Tag gegeben. Regentage, Sonnentage, sie alle waren schlimm gewesen. Seit ich denken konnte, nein, seit ich auf der Welt war, wünschte ich mir, dass es sich als schlechten Traum herausstellte – vergeblich.

Meine ersten Erinnerungen waren die an meine Mutter, wie sie mich anschrie und schlug. Immer war mein Magen leer und ich wusste zu stehlen, bevor ich wusste zu sprechen. Aber ich trug es meiner Mutter nicht nach. Schließlich konnten nur Kinder von Wohlhabenden eine heiße Mahlzeit und ein warmes Bett erwarten. Für die meisten Frauen, die versehentlich schwanger, ohne Zuneigung aufgezogen und somit zu problematischen Erwachsenen wurden, nur um diesen Zyklus mit ihren Töchtern zu wiederholen, war dies normal. Sicherlich wurde meine Mutter genauso aufgezogen wie ich.

Als ich in die Pubertät eintrat, verkaufte mich meine Mutter für eine unbedeutende Geldmenge an ein Bordell. Frauen wie sie boten ihre Dienste als Huren an. Es gab dort auch Mädchen in meinem Alter, mit einer von ihnen freundete ich mich an. Sie nannte mich „Rosa“, da erfuhr ich zum ersten Mal, welche Farbe meine Augen besaßen. Niemals hatte ich in einen Spiegel geschaut. Im Gegenzug nannte ich sie „Violett“. Für mein eigenes Gesicht interessierte ich mich nicht, aber ihres fand ich ziemlich hübsch. Rosa und Violett, wir waren unzertrennlich.

Eines Tages schlug Violett vor, etwas Geld zu stehlen und zu fliehen. Ich willigte ein, da ich dachte, gemeinsam könnten wir es schaffen. Und das taten wir. Wir entwischten aus der Stadt und trafen einen Mann mit Pferd, der an den Toren wartete. Ich erkannte ihn als einen der regelmäßigen Freier von Violett. Ich dachte, er würde uns beide von hier mitnehmen, aber ich lag falsch. Es stellte sich heraus, dass sie von Beginn an geplant hatten, mich zu töten. Meine einzige Rolle war das Tragen von Gold, damit sie mehr einheimsen konnten.

„Halte es mir nicht vor, Rosa.“, sagte Violett mit ihrem üblichen Lächeln.

Wären unsere Verfolger nicht in jenem Moment eingetroffen, ich war sicher, ich wäre tot gewesen. Hastig rannten die beiden davon und ich wurde gefasst. Was Violett getan hatte, dafür hasste ich sie nicht. Stattdessen hasste ich mich, dass ich mich so leicht hatte hereinlegen lassen. Ich entschloss, das nächste Mal würde ich diesen Fehler nicht wiederholen.

Ich wiederholte ihn nicht. Um ehrlich zu sein liefen die Dinge sogar einfacher ohne Violett. Größtenteils lag es daran, weil ich jeden im Bordell tötete, bevor ich es verließ.

Ich wartete bis zur Nacht und brachte dann alle Männer um, die als Wachen angestellt waren. In ihre Getränke hatte ich ein Gift gemischt, sodass sie bereits halbtot waren und ein junges Mädchen wie ich es mühelos mit ihnen aufnehmen konnte. Die schlafenden Prostituierten starben, ehe sie erwachten.

Ich sammelte so viel Geld ein wie ich tragen konnte und verließ die Stadt bei Tagesanbruch. Unglücklicherweise traf ich anstelle von Wachen auf Banditen, die mir all mein Gold abnahmen. Bevor sie mich an ein Leben als Sexsklavin verkauften, konnte ich entkommen. Danach entschied ich, Geld mit mir zu tragen, brachte mich mehr in Schwierigkeiten, als es Wert war. Ich würde es stehlen, wenn ich es brauchte, und so weniger ein Zielobjekt sein. Jedoch verblieb meine Weiblichkeit, der ich mich nicht entledigen konnte.

Ich hätte einen Mann haben können, der mich beschützte, wie Violett. Aber ich zog es vor, allein zu leben. Obwohl ich einmal mit einem Mann zusammen lebte. Er war ein Kunde dieses schäbigen Bordells, den ich in einer entfernten Stadt traf und der mich erkannte. Um mein Geheimnis zu wahren, war ich bereit ihn zu töten, aber hielt mich aus irgendeinem Grund zurück. Stattdessen lebte ich mit ihm in einer Ecke der Stadt und half ihm bei seiner Arbeit als Dieb. Die Zeit, die wir zusammen verbrachten, war interessant… sogar spaßig. So zu leben war nicht schlecht, daher verwarf ich den Gedanken, ihn zu töten.

Aber es währte nicht lange. Ich zog mir eine schleichende und tödliche Krankheit zu. Da es ansteckend war, fürchtete der Mann um sein Leben und verließ mich, versuchte allerdings zuvor mich zu verkaufen. Noch traten keine Symptome zutage und er kassierte ein gute Vermittlerprovision. Dieser törichte Mann… Noch war ich nicht zu schwach ihn zu töten. Im Schlaf köpfte ich ihn und er starb mit einem entsetzten Gesichtsausdruck. Erst danach realisierte ich, dass ich niemals wirklich aufgegeben hatte ihn zu töten… Schließlich hatte ich stets mit meiner Klinge neben dem Kopfkissen geschlafen.

So war ich wieder allein, stahl Essen und Kleidung, wenn ich es benötigte, und durchstreifte ziellos das Land. Wie ich hörte, brauchte meine Krankheit Zeit um voranzuschreiten. Daher wanderte ich umher und wartete auf den Ausbruch. All jene, von denen ich stahl, würde ich töten – seien es Frauen, Kinder oder Alte.

„Du kannst all unser Essen und Geld haben. Doch töte uns nicht, verschone uns bitte…“

Jedes Mal bettelten sie mit diesen Worten um ihre Leben. Es war mir ein Rätsel, aber wenn Menschen um ihr Leben flehten, machten sie alle das gleiche Gesicht. Ob ich damals auch genau diesen Ausdruck besaß, bei der Sache mit Violett? Nein, wohl nicht. Ich hatte nie gebettelt.

„Und wenn ich euch verschonen sollte, was dann? Eines Tages würdet ihr mich aus Rache töten.“

„So etwas würden wir nicht…“

„Sicherlich würdet ihr. Schließlich habe ich vor euren Augen eure Mutter umgebracht.“

Die Frau schien eine gute Mutter gewesen zu sein, nicht wie meine. Sie starb, weil sie ihre Kinder vor meinen Schlägen schützte.

„Denkt nicht schlecht von mir, ich will nur nicht, dass ihr mich verratet.“

Und so ermordete ich das zitternde Schwesternpaar.

Unter den vielen Menschen, die ich über die Jahre getötet hatte, gab es nur einen, der nicht um sein Leben flehte. Es war ein kleines Mädchen, einige Jahre jünger als ich, die mich mit zornigen Augen anblickte.

„Warum!? Warum tust du das nur!?“

„Ich habe Hunger, daher.“

„Lächerlich!“

„Ist es nicht. Ich verhungere sonst, weil ich kein Geld für Nahrung habe.“

Vor dem Mädchen lagen die toten Körper ihres Vaters, älteren Bruders sowie in geringer Entfernung die Frau, die ihre Köchin gewesen war. Es war meine übliche Strategie, die Stärkeren zuerst zu töten und die Kinder bis zum Schluss aufzusparen.

„Warum nimmst du nicht einfach das Geld und lässt uns zufrieden?“

„Ah. Hm, ich verstehe. Darüber habe ich noch nie zu vor nachgedacht. Ich frage mich, warum?“

Meinem aufgekeimten Zweifel zum Trotz schlug ich dem Mädchen den Kopf ab. Ihre offenen Augen behielten den vorwurfsvollen Blick sogar im Tode.

„Warum? Ich würde gerne wissen, warum ich bin wie ich bin.“

Mit dem starren Blick des Mädchens in meinem Rücken, nahm ich das Brot vom Tisch und aß. Es stimmte, ich hungerte. Daher war ich in das Haus eingedrungen. Es hatte betucht ausgesehen und weil es Essenszeit war, hatte ich mir eben dieses ausgesucht. Das war der einzige Grund. Dennoch…

„Warum bloß.“

Ich aß das Essen mit bloßen Händen vom Teller, trank direkt aus dem Wasserkrug. Das von der Hausköchin zubereitete Mahl war ausgezeichnet.

„Warum töte ich? Ich weiß nicht, weshalb ich nichts anderes tue als zu morden.“

Meine Worte richteten sich an den Kopf des Mädchens auf dem Fußboden. Ich erinnerte mich weder an die Gesichter der Getöteten, noch wie viele ich umgebracht hatte und hatte es auch nicht vor. Doch war mir bislang nie die einfachste Frage des Lebens in den Sinn gekommen.

Warum töte ich? Warum?

„Vielleicht töte ich, um es in Erfahrung zu bringen.“

Mit unzufriedenem Blick starrte mich das Mädchen unverwegen an.

Nach diesem Vorfall machte ich weiter wie bisher. Ohne es zu hinterfragen, tötete immer und immer wieder. Mit der Anzahl meiner Opfer wuchsen auch die Geschichten, die über mich erzählt wurden, obwohl ich mich fragte, wie, da ich jegliche Zeugen sorgfältig beseitigte. Erzählungen über eine junge Frau, die von Stadt zu Stadt zog und willkürlich Menschen ermordete, erreichten sogar entfernte Länder. Als „Pink-äugige Hexe“ bezeichnet, wurde ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt, für das jeder Mann sein Leben aufs Spiel setzen würde.

So musste es kommen, dass ich eines Nachts gefangen wurde, als meine Krankheit mich bewegungsunfähig machte. Sie holte mich allmählich ein, denn ich konnte keinerlei Widerstand leisten. Als man mich in Ketten legte, begriff ich, das Ende war nah. Nun denn, lasst mich für meine Verbrechen büßen, waren meine Gedanken. Ich wurde geschlagen bis Blut floss, doch es war nicht ausreichend, um mich zu töten. Man ließ mich die genaue Anzahl an ermordeten Opfern wissen und es erschien mir weniger als gedacht. Den Rest meiner Zeit verbrachte ich im Verlies und lauschte den Schreien der anderen fünf Mädchen, die gefoltert wurden und wie sie immer wieder riefen „Wir haben nichts Falsches getan“.

Lange schon waren ihre Stimmen schwach geworden. Das Mädchen neben mir hielt am längsten durch, allein aufgrund ihrer Willensstärke. Ich blickte sie an, wissend, dass sie mich nicht sehen konnte. Selbst in diesem Zustand war offensichtlich für mich, was für ein starkes Mädchen mit Gerechtigkeitssinn sie war – im Gegensatz zu mir. Wie seltsam es doch war, dass wir Seite an Seite sterben würden.

Bald fragte sie mich nach meinem Namen. Ihr musste wegen meines Hustens aufgefallen sein, dass ich nicht zu ihrer Gruppe gehörte.

„Wer bist du und wie ist dein Name?“

Ich sagte ihr, ich hatte keinen. Ich hatte nichts. Kein Geld und kein Heim. Keine Familie, Freunde oder jemanden, den ich liebte. Niemanden. Es gab eine einzig wunderbare Sache und das war mein Leben, das ich besaß, ich jedoch bald ebenfalls verlor. Als Bilanz besäße ich nichts mehr. Zero. Wie töricht.

Genau, was für ein törichtes Leben es doch war. Es hatte keine Bedeutung. Es war so leer und idiotisch, dass ich nicht aufhören konnte zu lachen.

Das Mädchen sagte erneut, ist solle nicht weinen.

„Ich… lache aber.“

Unfähig normal zu atmen, klang mein Lachen womöglich wie ein Schluchzen. Ich dachte, jeder Atemzug, den ich tat, könnte vielleicht mein letzter sein.

„Wirklich?“

„Ja.“

Ihr erleichtertes Seufzen war zu hören bevor ich bemerkte, dass der Regenschauer allmählich abschwächte. Im nächsten Augenblick verließen jegliche Kräfte den Körper des Mädchens.

„Hey…“

Keine Antwort.

„Jetzt bin ich wohl die letzte Überlebende…“

Es hieß, die Letzte würde lebendig mit den Leichen der anderen Fünf verbrannt. Dies hörend, biss sich eine von ihnen die Zunge ab. Eine andere starb, als man sie ins Verlies zerrte. Eine weitere verblich, bevor es zu regnen begann und noch eine, während der Regen fiel. Wir waren die letzten Zwei.
Es schien unmöglich bei diesem Wetter einen Scheiterhaufen zu zünden, wahrscheinlich würde man mich zusammen mit den anderen einfach lebendig begraben. Dass das Los nicht auf das Mädchen fiel, war wahrscheinlich gut so. Sie, die bis zum Schluss für andere gelebt hatte, verdiente einen solch erbärmlichen Tod nicht. Es war falsch.

Falsch? Was war falsch? Wer war falsch?

„Wir liegen nicht falsch“, waren die Worte des Mädchens, die in meinen Ohren widerhallten. Nein, lagen sie nicht. Aber diese Welt war falsch. Es war der grausame Herrscher des Landes, der Menschen etwas Schreckliches antat. Ich war es, die ohne nachzudenken tötete. Diese Welt, die die Schwachen bestrafte, sie war falsch.

War das nicht verrückt? Es ergab überhaupt keinen Sinn!

Plötzlich erfüllte mich Wut. Nein, nicht plötzlich. Ich war schon immer voller Wut. Nur hatte ich es bis gerade nicht erkannt. Ich hasste diese Welt, verfluchte sie. Lange bevor ich mich daran erinnern konnte.

Ich spürte, wie ein Schrei meine Kehle hinaufstieg, doch das einzige, was mir entwich, war warmes, flüssiges Blut, das aus meinem Mund tropfte. Es war, also wollte mich selbst diese beschissene Welt tot sehen. Ich konnte das nicht erlauben. Würde es nicht erlauben. Sterbt! Ihr alle solltet sterben! Sterben, sterben, sterben, sterben, sterben, sterben…!

Ich bemerkte vor mir eine Blume. Sie erblühte zwischen mir und der Leiche des Mädchens in der Farbe Rosa.
Seit wann? Und wie konnte eine Blume an solch einem Ort blühen?
Regentropfen fielen auf ihre Blütenblätter und sie wankte darunter. Obwohl ich diese Blumenart nie zuvor gesehen hatte, erschien sie mir vertraut. Möglicherweise kam es mir nur so vor, weil sie die gleiche Farbe wie meine Augen besaß. Oder sie war eine Blume aus dem Himmel. Bedeutete das, ich war bereits tot?

Nein. Wäre ich tot, würde ich wohl nicht in den Himmel kommen. Womöglich halluzinierte ich kurz vor meinem Ableben, dachte ich, aber… Obgleich ich mich nie zuvor für Blumen interessierte, diese gefiel mir. Sie zog meinen Blick auf sich, in ihren Bann. Ich konnte nicht anders als sie ohne zu zwinkern anzustarren. Sie war so wunderschön… Mein Leben war unnütz, aber die Blume anzusehen während alles endete, war keine schlechte Sache.

Mit der blühenden Blume in meinem Sichtfeld lächelte ich sanft.

 

[Anmerkung: Bei den japanischen Namen werden die Farben noch feiner differenziert. So kann Zero neben „Rosa“ auch „Hellrot“ heißen, das andere Mädchen eher „Dunkelviolett“. Als Name ist das aber ein bisschen umständlich auszusprechen, daher wurde es hier als „Rosa“ und „Violett“ übersetzt.]