01. Januar 999, Anno Domini
An diesem ersten Tag des neuen Jahres waren die Gesichter der Menschen in der Kirchenhauptstadt erfüllt von Freude. Mit meinem scharfen Blick konnte ich erkennen, dass jedes Lächeln unverfälscht war. Der Glanz in ihren Augen und das Lachen, das über ihre Lippen entwich… Niemand trug einen beunruhigten oder erzwungenen Gesichtsausdruck.
Es waren die zurückgekehrten „Utahime“, die die jeweiligen Herrscher der Länder des Sandes, der Wälder, der Berge und des Meeres geschlagen, jegliche ihrer Überbleibsel vernichtet hatten, die Bevölkerung aus ihrer Unterdrückung befreiten und nun triumphierten. Sehnsüchtig hatten die Menschen auf einen Tag wie diesen gewartet.
Die einzige Person, die an diesem Ort ein aufgesetztes Lächeln trug, war wahrscheinlich ich selbst. Es galt dies zu ertragen und keine Aufmerksamkeit zu erregen, indem ich die Stirn runzelte, meine Ohren verschloss und genau hier auf die Knie sank – denn ich war niemand geringeres als eine Utahime.
Eigentlich hätten meine Schwestern an meiner Seite sein sollen, aber ich schüttelte diesen Gedanken schnell ab.
Alle fünf Utahime in der Kirchenhauptstadt zu versammeln, wäre sicherlich ein eindrucksvolles Signal gewesen, aber meine jüngeren Schwestern hatten ihre Pflichten zu erfüllen. Es wäre nicht ratsam, dass sie als neue Herrscherinnen, die gerade erst ihre Positionen eingenommen hatten, das Land verließen. Darüber hinaus dauerte es ohnehin nicht mehr lange, bis ich sie zu mir bestellen würde.
Der Menschenmenge zugewandt, die die Straße säumte, winkte ich von meinem Pferd aus. Das brachte sie dazu noch lauter zu jubeln und ich spürte die Anspannung meines Pferdes, da es an diese Geräusche nicht gewöhnt war. Obwohl ich Pferde aufgrund ihres strengen Eigengeruchs nicht mochte, konnte ich mit diesem sympathisieren. Es war gezwungenen, den Paradeweg vom Hafen bis zur Kirche zu bestreiten – genau wie ich. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich nach Sonnenuntergang zu gerne heimlich in die Kirche zurückgekehrt, damit niemand meine geistige Erschöpfung bemerkte – ich wollte allein sein. Die Kämpfe Tag für Tag hatten mich müde gemacht und sowohl Leib als auch Seele sehnten sich nach Erholung. Aber es war nichts als ein selbstsüchtiger Wunsch von mir. Um dieser Welt den Frieden zu bringen, die Ordnung des Systems wiederherzustellen und damit den Leuten zu imponieren, musste ich als eine Utahime diese Prozedur ertragen. Auch wenn mir der laute Jubel der unschuldigen Menschen aufgrund meines übermenschlich feinen Gehörsinns unangenehm war und schmerzte, als würde meine Schädel gespalten.
27. Januar
Die Tage nach meiner Rückkehr in die Kirchenhauptstadt zog ich mich intensiv in die Bibliothek zurück. Ich mochte Bibliotheken. Die mit dicken Büchern prall gefüllten Regalen dämpften Stimmen und Geräusche von Außerhalb. Es war ein stiller Ort, den man nirgendwo sonst fand. Obwohl mir der Geruch von Staub und Schimmel unangenehm war, im Vergleich zum Geruch von Mensch und Tier war er wesentlich besser. Was mich betraf, hatte ich nicht nur einen scharfen Blick und Gehörsinn. Alle fünf Sinne, auch Geruchs-, Spür- und Geschmackssinn, waren übernatürlich ausgeprägt, aber damit zu leben war nicht leicht. In meiner Kindheit war es nicht so schlimm wie heutzutage gewesen. Einst waren meine fünf Sinne nur geringfügig anderen Menschen überentwickelt. Doch je älter ich wurde, desto mehr überragte die Entwicklung meiner Sinne die meines Körpers in einer übermäßigen Geschwindigkeit. Schon lange litt ich an Geräuschen und Düften. Was auch immer ich aß, ich konnte es nicht genießen, da der Geschmack meine Nerven überforderte. Selbst der Stoff meiner Kleidung, der meine Haut streifte, war für mich unangenehm. Utautai wurden damit geboren, dass sich einer ihrer Körperaspekt im Vergleich zu anderen Menschen überaus stark entwickelte. In meinem Fall waren es die Sinne. Es war wohl vermessen sich zu wünschen, trotz solcher Kräfte wie ein Durchschnittsmensch leben zu dürfen.
Plötzlich waren Schritte zu hören. Zwei an der Zahl, das eine Schrittpaar vorangehend, das andere folgend. Auf halbem Wege stoppten sie und wechselten zum Gang auf Zehenspitzen, um leiser zu sein. Kurz darauf ertönte ein zartes Klopfen an der Tür. Es war jemand, der fröhlich, energiegeladen und die Freundlichkeit in Person war, und nun Rücksicht auf meinen feinen Gehörsinn nahm.
„Es ist offen. Du hast es schnell hierher geschafft, Two.“
Sobald ich ihren Namen ausgesprochen hatte, ertönte ein fürchterliches Geräusch von der Tür und ihr entfuhr ein kleiner Schrei.
„’Tschuldige… Ich hab’s leider kaputt gemacht.“
Meine jüngere Schwester Two, die mit ihrem den Tränen nahen Gesicht noch jünger aussah, stand im Schatten der zertrümmerten Tür, den Knauf in der Hand haltend. So wie meine fünf Sinne überentwickelt waren, war es bei Two ihre muskuläre Stärke. Obwohl man ihr ihre Muskulösität nicht ansah, war die Kraft ihrer Arme und Beine furchteinflößend. Sie hatte zwar versucht, wie ein gewöhnlicher Mensch die Tür zu öffnen, den Messingknauf aber einfach herausgerissen. Wahrscheinlich war ihre Muskulatur erneut stärker geworden. Um Personen in ihrer Nähe nicht zu verletzen, achtete Two immer auf ihre Bewegungen. Trotz ihrer feinfühlige Selbstkontrolle deutete dieses Ereignis darauf hin, dass ihre Stärke plötzlich zugenommen hatte ohne es zu realisieren. Ich vermutete, das Wachstum ihrer Kräfte war nicht linear sondern erfolgte in Schüben, sodass ein plötzlicher Anstieg in einer unerwarteten Attacke enden konnte. Wenigstens beeinflusste es nicht ihr körperliches Äußeres, im Gegensatz zu unseren anderen jüngeren Schwestern.
Threes Haare wuchsen rasant und um sie regelmäßig zu schneiden, trug sie stets ein Paar Scheren mit sich. Four schien mit dem Wachstum ihrer Fingernägel mehr zu kämpfen zu haben. Ungleich der Haare, die man ohne Schmerz einfach abschneiden konnte, litt Four unter dem Splittern und Brechen ihrer Nägel. Wenn sie glaubte, dass niemand zusah, neigte sie zur schlechten Angewohnheit an ihren langen Nägeln zu knabbern, um ihre Länge zu korrigieren. Selbst heute noch waren Fours Fingernägel der Grund für ihren anhaltenden Minderwertigkeitskomplex und sie versuchte verzweifelt, ihre Hände zu verbergen. Ganz anders die Jüngste, Five, die nicht genug davon bekommen konnte, stolz ihre stetig wachsende Oberweite zu präsentieren. Four sprach ihr übel nach, wie geschmacklos und vulgär ein üppiger Busen bei einem so jungen Körper aussah. Wie ich darüber nachdachte, erschien mir diese Reaktion als ein Ausdruck ihrer Minderwertigkeitsgefühle. Five zu sehen, wie zufrieden sie mit ihrem Körper war, musste Four nur noch mehr ärgern.
„Schwesterchen One, was soll ich jetzt tun?“
Twos Stimme brachte meine Gedanken zurück.
„Mach dir keine Sorgen. Es war ohnehin eine alte, zerbrechliche Tür.“
„Wirklich?“
„Ja doch.“
Als ich ihr sagte, es würde später jemand zu Reparatur kommen, hellte sich Twos Gemüt schlagartig auf. Sofort wandelte sich ihr den Tränen nahes Gesicht in ein Lächelndes. Seit der Kindheit hatte sich diese Naivität nicht geändert.
„Lange nicht gesehen, Schwesterchen One! Ging’s dir die Zeit über gut?“
Ehrlich gesagt war es alles andere als das. Nicht lange lag es zurück, als ich zusammen mit Two und ihrem Apostel eine Revolte der Adeligen verhinderte.
„,Lange nicht gesehen‘ ist wohl eher die falsche Bezeichnung.“
Der Mann, der neben Two stand, nickte zustimmend.
Obwohl sein Verhalten, sich demonstrativ durch die schwarzen Haare zu fahren, auf mich affektiert wirkte, schien es Two nicht zu stören. Im Gegenteil, es schien ihr zu gefallen. Er war Twos Apostel. Jede Utahime musste einen Apostel haben, der ihr zur Hilfe eilte und diente.
„Sind wir zufällig die ersten, die angekommen sind?“
Als ich bejahte, strahlten ihre Augen.
„Juhu! Wir sind die ersten!“
„Für mich seid Ihr immer die erste, Lady Two!“
„Du für mich auch, Cent. Du stehst für mich an erster Stelle. Nichts auf der Welt liebe ich so wie dich, Cent!“
Twos Wangen erröteten. Dieser Austausch zwischen den beiden war normal. Obwohl es peinlich war, die beiden so zu sehen, war das starke Band der Liebe die Verbindung, die für eine Utahime und ihren Apostel wünschenswert war.
Wenn man die beiden ließe, würden sie ihren Flirt ohne Zweifel weiter vertiefen und um das zu verhindern, fuhr ich mit dem Gespräch fort.
„Nun, wie ist die Lage im Land?“
„Oh, ja. In der Wüste hatte sich ein riiiesiger Dämon ein Nest gebaut, aber wir haben ihn ohne Probleme los werden können!“
Obwohl ich eigentlich wissen wollte, wie der Adel damit umging, all seine Privilegien verloren zu haben und ob Two Anzeichen sah, dass sie irgendetwas planten, schien ihr das nicht wichtig. Stattdessen unterrichtete sie mich über Monsterjagden und den Fortschritt in der Bewirtschaftung des Ackerlandes.
Nun, wenn es über das Land des Sandes nichts anderes als das Ackerland zu berichten gab, war wohl alles in Ordnung. Die Bevölkerung schien Two zuliebe keine Mühen zu scheuen, man hörte sogar, jeder verehrte sie.
Das Land des Sandes war ein weites Land, größtenteils bestehend aus Wüste und Ödnis. Die Ernten waren auf diesem Boden schlecht, die Lebensbedingungen für die Bürger quälerisch. Mein Urteilsvermögen, Two als Herrscherin in diesem Land einzusetzen, erwies sich als richtig, denn sie erfreute die Herzen ihres Volkes.
„Hey, sag‘, können wir uns in der Kirchenhauptstadt umschauen, bis alle da sind? Ist doch OK, oder?“
Bevor ich zustimmen konnte, drehte sich Two bereits um. Ich erinnerte mich, dass sie dies bereits vor einem halben Jahr tun wollte, ihr jedoch die Zeit gefehlt hatte, weil sie nur ganz kurz zu Besuch war. Kaum verändert wie sie als Kind war, ging Two davon, der schwarzhaarige Apostel ihr folgend, nachdem er sich vor mir verbeugte, und ich widmete mich erneut den Büchern.
In der Bibliothek befand ich mich nicht nur, weil es so angenehm still war, sondern weil ich etwas suchte.
Bücher jeglichen Zeitalters und aus verschiedenen Ländern wurden in dieser Bibliothek aufbewahrt, obwohl man nicht wusste, wer sie alles gesammelt hatte.
Darunter musst es doch geben, wonach ich suchte. Ein Buch, dass detailliert die Utautai behandelte und meine innigste Frage beantwortete: Warum existieren die Utautai?
14. Februar
Schneller als ich es erwartet hatte, kamen Four, die das Land der Berge regierte, und ihr Apostel Decadus hier an, denn es war das von der Kirchenhauptstadt am weitesten entfernte.
„Ich habe Schwester Three eingeladen, gemeinsam mit uns hierher zu kommen, aber sie war so mit der Fertigstellung einer neuen Puppe beschäftigt, dass sie ablehnte.“, sagte Four mit übertriebenem Seufzen.
Das Land der Wälder, dessen Herrscherin Three war, grenzte direkt an Fours Land der Berge an.
„Es ist immer das Gleiche mit ihr. Mach‘ dir nichts daraus.“
Es war wahrscheinlicher, dass Three nicht abgelehnt sondern Four einfach ignoriert hatte. Three war von uns Schwestern die größte Exzentrikerin. Seit ihrer Kindheit liebte sie Puppen, sie herzustellen war für sie das Wichtigste. Dabei erreichte kein gesprochenes Wort ihre Ohren, sie vergaß sogar zu essen oder zu schlafen. Es war wohl Pech, dass Four gerade kam, als Three mitten in der Herstellung einer Puppe war, und ihre Stimme gar nicht zu ihr durchdrang.
„Abgesehen davon…“
„Du möchtest sicher erfahren, wie die Situation im Land ist, richtig?“
„Schnell beim Thema, wie von dir gewohnt, Four.“
Auf Fours Gesicht erschien ein Ausdruck des Stolzes und sie berichtete vom Land der Berge.
„Alles läuft gut. Wahrscheinlich, weil die Bevölkerungsdichte gering ist. Sowohl Ackerland als auch Siedlungsgebiete sind nicht weit gestreut. Es ist ein leicht zu regierendes Land. Es so beschädigt zu haben, verdeutlicht nur die Inkompetenz des einstigen Landesherren.“
Wäre es nicht ein solches Land, hätte ich es nicht Four überlassen. Sie war klug und hatte einen ernsten Charakter, aber sie konnte mit unvorhersehbaren Situationen schlecht umgehen. Dann würde sie sich niedergeschlagen zurückziehen oder vor Wut ausrasten. Auf keinen Fall würde ich ihr ein Land überlassen, das sie vom Anspruch her überfordern könnte.
„Das Land der Berge bereitet mir keine Sorgen. Wie steht es um das Land der Wälder?“
Der Grund, warum Four einen Besuch bei Three gemacht hatte, war, dass ich sie darum gebeten hatte, um die Situation im Nachbarland einschätzen zu können. Ich war besorgt, denn der exzentrischen Three eine Führungsposition anzuvertrauen, war in meinen Augen wie ein Glücksspiel.
„Unerwarteterweise scheint sie die Dinge erfolgreich zu regeln. Wie schafft sie es nur, diese ärgerlichen Feen und arroganten Elfen unter Kontrolle zu halten? Ich sehe Schwester Three durchaus in einem neuen Licht.“
Im Land der Wälder lebten nicht nur Menschen. Es war das Domizil der Feen und es gab ein verborgenes Dorf der Elfen. Im Vergleich zu den Menschen machten sie den Großteil aus. Das war der Grund, warum ich zu dem Schluss gekommen war, dass Three dort gut hinpasste.
Die Nichtmenschen hatten eine starke Abneigung, sich von Menschen etwas vorschreiben zu lassen. Der Schlüssel, um mit ihnen auszukommen, war, ihnen Freiraum zu lassen. Die Herrscher, die zuvor das Land der Wälder regiert hatten, versuchten immer wieder massiven Einfluss auf die Nichtmenschen zu nehmen, was natürlich nicht gut ging. Dieser Fehler würde sich mit Three nicht wiederholen, da sie keinen Drang dazu hatte, sich die verschiedenen Gebiete des Waldes Untertan zu machen. Außerdem, je weniger Three mit Menschen zu tun hatte, desto besser…
„Schwester One?“
„Ah, es ist nichts. Fahre fort.“
„Das war schon alles! Es gibt keine Probleme, was die Länder der Berge und der Wälder betrifft. Seit die skrupellosen Landesherrscher verschwunden sind, lebt das Volk in Frieden. Letzten Herbst war es das erste Mal, dass die Menschen die Früchte ihrer landwirtschaftlichen Arbeit einfahren konnten, ohne dass man sie ihnen sogleich aus den Händen riss.“
Ihre Aussage bekräftigend, nickte Four energisch. Das beendete Gespräch hatte keine Anzeichen zur Sorge enthalten, jedoch…
„Was ist los?“
Es war offensichtlich, dass sie etwas sagen wollte.
„Hast du wirklich vor…. gegen sie zu kämpfen?“
„Dafür habe ich euch Schwestern hierher bestellt.“
Doch Four sprach zurückhaltend weiter.
„Ich finde diesen Kampf sinnlos…“
„Möchtest du dich einfach töten lassen?“
„Nein! Das habe ich damit nicht sagen wollen…“
„Es wäre das Gleiche.“
Da Four die Argumente fehlten, senkte sie betreten den Blick.
„One… Du hast dich verändert, Schwester.“
„Scheint so. Aber nicht nur ich habe mich verändert.“
Wir allen konnten nicht für immer Kinder bleiben. Sicherlich hatten wir uns gewandelt. Allein schon, um unserer besonderen Utautai-Kräfte Herr zu werden, die Tag für Tag wuchsen. Wann war es nochmal, als wir bemerkten, dass mit unseren Körpern etwas nicht normal war?
Was hatte es mit den Kräften der Utautai auf sich? Als ich ein gewisses Alter erreichte, war mir klar, dass sie dazu da waren, die Harmonie in der Welt zu bewahren, aber warum wurde mir das bewusst? Wer hatte es mich gelehrt?
Obwohl man an Fours Gesicht ablesen konnte, dass sie noch mehr sagen wollte, verließ sie wortlos die Bibliothek. Ihr Apostel Decadus folgte schweigend. Wie gewohnt waren sich ihre Augen kein einziges Mal begegnet. Four mochte den zurückhaltende Mann mittleren Alters nicht, der ganz anders als Twos Apostel war. Diese demütigende Behandlung schien ihm zu gefallen, nicht eine Beschwerde darüber war je aus seinem Mund gekommen. Diese Haltung reizte Four noch mehr.
Als ich die Schritte der beiden nicht mehr hören konnte, widmete ich mich erneut meinen Nachforschungen. Vielleicht war die Art, wie ich suchte, falsch. Es konnte sein, dass wir nicht immer „Utautai“ oder „Utahime“ genannt, sondern anders bezeichnet worden waren. Die Existenz einer solchen Macht wie die des Gesangs musste einfach dokumentiert sein. Der Gesang war nicht bloß eine Beschwörung von Worten, er unterschied sich fundamental von allem, was sonst als magisch bezeichnet wurde. Unter all denen, die sich mit der Erforschung von Magie befassten, gab es niemanden, der auch nur ein Dokument über uns verfasst hatte. Warum fand ich nichts? Verbarg jemand absichtlich jegliche Informationen? Oder hatte man sie willentlich vernichtet? Wenn ja, was war der Grund?
22. Februar
„Ich dachte, ich sei die letzte.“, sagte Five und neigte überrascht den Kopf.
„Aber Schwester Three ist noch nicht hier, wie Schwester Two mir sagte.“
Für mich war das nicht überraschend, denn ich hatte erwartet, dass entweder Three oder Five die Letzte sein würde. Three, weil sie bei der Herstellung ihrer Puppen jegliches Zeitgefühl vergaß, und Five, die, obwohl sich das Land des Meeres am nächsten zur Kirchenhauptstadt befand, nachlässig war und trödelte.
„Daher sagte ich dir doch, wir brauchten uns nicht zu beeilen.“, meinte Fives Apostel.
Solange er schwieg, schien er ein zarter, gutaussehender Junge zu sein, aber sobald er seinen Mund öffnete, kam nur Verdorbenes heraus. Ich glaube, Four hatte ihn einmal als „frechen Mistbengel“ beschimpft. Generell war auch ich dieser Ansicht.
„Aber du hörst ja nie zu, was ich sage, Five.“
„Hey, das stimmt doch gar nicht!“
„Nehmen wir letzte Nacht als Beispiel. Obwohl ich dir sagte, ich sei müde, hast du mich die ganze Zeit nicht schlafen lass-…“
Um die Worte des Apostels zu unterbrechen, räusperte ich mich.
„Machen wir es kurz und bündig. Wie ist die Lage im Land?“
Unter allen Gebieten war das Land des Meeres das, wo die Macht der korrupten Feudalherren noch am stärksten vorherrschte. Die Schicht der wohlhabenden und einflussreichen Adeligen konzentrierte sich dort. Sehr wahrscheinlich hegten sie einen großen Hass gegen uns, die wir ihnen die Privilegien entrissen hatten. Doch von Beginn an war nichts ihr Eigentum gewesen, sie hatten alles unrechtmäßig den Bürgern genommen. Wir gaben es jenen lediglich zurück, daher war jegliche üble Nachrede der Adeligen ungerechtfertigt.
Auf alle Fälle war es das Land mit der größten Anzahl an unruhestiftenden Elementen. Ich befürchtete, Five würde sich bei den Aufständen im übertragenden Sinne die Finger verbrennen, aber meine Zweifel schienen unbegründet.
Kichernd zwinkerte Five mit einem Augen und sagte:
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe mir alle adeligen Anhänger Untertan gemacht.“
Five sei gierig nach allem, sagte der Apostel neben ihr mit bitterem Lächeln.
Seit ihrer Kindheit konnte es Five nicht ertragen, wenn sie etwas nicht in ihre Finger bekam, und war unersättlich, bis sie es ihr Eigen nannte, ganz gleich ob Gegenstand oder Person. Wegen ihrer brutalen Zielstrebigkeit erntete sie zwar manchmal die Missgunst anderer, aber ihr Charakter war ideal, um ein solch instabiles Land zu regieren.
„Wie geht es außerdem mit der Reparatur der Häfen voran?“
Ich erinnerte mich, dass wir beim Entledigen der überlebenden Aufständischen einige Häfen unwillentlich zerstört hatten. Obwohl wir sorgfältige Vorsicht walten ließen, war der Gebrauch unserer Kräfte schwierig und die Häfen fielen dem zum Opfer. Bis dahin waren unsere Kräfte stetig angewachsen.
„Da gibt es keine Verzögerungen. Aus den östlichen Ländern kommen bereits wieder Güterschiffe.“
„Dank diesen kann Five wieder verschwenderisch sein. Sie hat die von den Feudalherren angehäuften Edelsteinvorräte ausgegeben, um jegliche Dinge zu kaufen.“
Der vorherige Herrscher das Landes war eine Frau gewesen, in deren Schloss es diverse Ankleidezimmer mit unzähligen Kleidern und Schatzkammern mit Juwelen gab, die Five mit Freunden für sich allein beanspruchte. Auch diese Dinge gehörten einst dem Volk, aber ich entschied mich, dass Five das, was ihr gefiel, behalten durfte. Ich kannte ihre zielstrebige Gier und wankelmütigen Launen. Wenn sie etwas begehrte, klammerte sie sich so fest an den Gedanken, bis sie es besaß, um danach das Interesse daran zu verlieren.
Erwartungsgemäß wurde Five dem prachtvollen Schmuck überdrüssig, daher tauschte sie ihn einfach gegen seltene Ware, die die Reisenden aus dem Osten mitbrachten. Sicherlich würden auch diese Artikel sie bald langweilen und Five sie gegen andere Dinge weiter tauschen. Zumindest könnte es zur Folge haben, den Handel im Land des Meeres anzuregen.
Das prozentuale Verhältnis von Bevölkerung zu Land war groß und aufgrund des Klimas war die landwirtschaftliche Nutzung nur schwer kalkulierbar. Es war zweifelhaft, ob die Ressourcen, die aus dem Meer gewonnen wurden, für das Volk ausreichten. Nur der Handel konnte den Menschen Wohlstand verschaffen.
„Nicht nur die Edelsteine, auch von den Kleidern habe ich mich getrennt. Meine Brüste wurden zu groß, ich konnte sie gar nicht mehr tragen. Scheinbar wachsen sie immer noch weiter und weiter.“
Neben Five zuckte ihr Apostel abfällig mit den Schultern. Sein abscheuliches Lächeln passt nicht zum Rest des sonst so lieblichen Gesichts.
„Hättest du das vor Four gesagt, hätte sie dich bestimmt umbringen wollen.“
Gerade wollte ich erwähnen, dass das ausgerechnet jemand sagte, der unzählige Male Four in heftige Rage versetzt hatte… aber ich hielt Inne, da ich es für belanglos hielt.
Twos muskuläre Stärke hatte deutlich zugenommen. Four trug gepanzerte Handschuhe, um ihre Fingernägel zu verbergen, die sie, wie man hören konnte, Tag und Nacht zurückschneiden musste. Diese Wachstumsrate war nach wie vor schnell. Auch meine Sinne nahmen stetig an Schärfe zu. Mittlerweile drangen sogar Stimmen und Geräusche von Außerhalb bis zu mir in die Bibliothek durch. Und da war nun Five, wie sie über ihre immer größer werdende Oberweite erzählte und bedauerte, dass ihr nur noch wenige Kleidungsstücke passten.
Es schien, als waren die anormalen Veränderung unserer Körper ein Zeichen dafür, dass unsere Utautai-Kräfte noch weiter wuchsen. Als Kind wünschte ihr mir, an Stärke zu gewinnen, doch heutzutage fürchtete ich mich davor, wie viel mächtiger wir noch werden würden…
„Ich verstehe. Unser Gespräch ist beendet.“
Ihnen sagend, ich wollte meine Nachforschungen fortsetzen, wandte ich den beiden rasch den Rücken zu. Es war nicht gelogen, denn ich wollte wirklich schnellstmöglich meine Arbeit wiederaufnehmen. Obwohl ich so intensiv nach Schilderungen über die Utautai suchte, wurde ich nicht fündig, was meine Ungeduld schürte. Bei dem Gedanken, ich könnte möglicherweise nirgendwo etwas finden, ergriff mich die Angst und ich blätterte die Seiten der Bücher hastig durch.
04. März 999, Anno Domini
Three traf genau am Morgen „jenes Tages“ ein. Frustriert, dass ich mit meinen Nachforschungen kein Stück vorangekommen war, suchte ich seit den frühen Morgenstunden in einer Sammlung staubbedeckter Schriften. Bevor ich Schritte hörte, vernahm ich das schneidende Geräusch von Scheren. Das unstetige Schlurfen gehörte zu Three, der regelmäßige Gang zu ihrem Apostel.
„Morgens zwei Beine, mittags zwölf und abends nur ein Bein….“
Mit diesem Wortspiel öffnete Three die Tür.
„…waaas ist das wohl?“
Ohne ihr zu Antworten, entgegnete ich lediglich „Du bist spät“. Threes Worträtsel waren dafür bekannt, dass sich hinter den meisten von ihnen kein Sinn befand. Als Kind war Three äußerst schweigsam gewesen, aber seit sie Puppen herstellte, war sie wesentlich gesprächiger als zuvor. Sie fand wohl Gefallen am Spiel mit Puppen und Worten.
„Deine Haare… haben sie eventuell aufgehört zu wachsen?“
Threes Haare gingen ihr bislang immer bis zu den Kniekehlen, doch jetzt endeten sie in der Mitte des Rückens. Ihre Haltung war fürchterlich gekrümmt.
„Nein, nein. Es ist nur so, dass ich mich seit kurzem um Lady Threes Haarschnitt kümmere.“, sagte der Apostel an ihrer Seite mit lachendem „Ho ho ho“. Threes Apostel Octa war ein eigenartiger, alter Mann, so war zumindest der erste Eindruck seiner Person. Dabei war er alles andere als nur eigenartig…
„Verstehe.“
Erwartungsgemäß würden Threes Haare nachwachsen. Warum sollte sie auch eine Ausnahme darstellen. Jetzt, wo die erwartete Schlacht kurz bevor stand, gab es nur eine Devise: Je stärker die jeweilige Utautai-Kraft desto besser. Aber was wäre danach? Wozu bräuchten wir unsere Kräfte nach diesem letzten Kampf noch?
„…Ich bin müde.“
Anstatt sich zu strecken, wollte sich Three gähnend auf dem Boden zusammen rollen. Seit ihrer Kindheit war es stets dasselbe. Wenn sie nicht an ihren Puppen arbeitete, war sie immerzu träge und lies sich, wenn sie diese Worte ausgesprochen hatte, unmittelbar nieder um zu schlafen.
„Leg dich nicht auf die Bücher. Es sind antike Exemplare, du würdest sie beschädigen.“
Three, die sich gerade auf eine Bücherhaufen setzen wollte, schwankte mit dem Körper zur Seite und legte sich direkt daneben.
„Es wäre besser, du ruhst dich etwas in einem der Schlafzimmer aus.“
Das Land der Wälder war wie das Land der Berge gleich weit von hier entfernt. Sicherlich war nicht nur Three sondern auch ihr Apostel von der langen Reise erschöpft. Da mich Four bereits über die Lage im Land unterrichtet hatte, war ein Gespräch darüber nicht notwendig.
„Was gibt es?“
Ich dachte, Three würde sich entweder auf die Seite rollen und sogleich einschlafen oder aufstehen und gehen, aber sie tat weder noch. Stattdessen spielte sie ausdruckslos mit den Scheren in ihren Händen herum. Ich wusste absolut nicht, was sie wohl denken mochte und und fand keine passenden Worte. Vermutlich erging es ihrem Apostel genauso. Und doch, ich wurde das Gefühl nicht los, dass meine exzentrische, junge Schwester mehr wusste als ich. Als wäre sie seit langem im Besitz der Antworten, nach denen ist so sehr suchte.
„Ich werde nicht schlafen.“
„Warst du nicht gerade noch müde?“
„…Schnee.“
Es war nicht das erste Gespräch, das darauf hinaus lief, dass wir aneinander vorbei redeten. Ich wandte meinen Blick an Threes Apostel.
„Ich habe zu tun. Wenn Ihr so freundlich wärt und Euch ihr annehmt.“
„Ganz wie Ihr wün-…“, sagte er, als Three ihn plötzlich unterbrach.
„Ein rosa Fangzahn, herbeigebracht von einer riesigen Schlage, die weißer ist als der Schnee.“
„Three?“
„Die Spitze des Fangzahns… Wohin zeigt sie wooohl?“
Mit festem Blick starrte Three mich an. Dieses Mal war es kein sinnloses Wortspiel. Ich hatte den Sinn dahinter erkannt und wusste die Antwort auf das Rätsel.
Eine riesige Schlange, weißer als der Schnee. Ein weißer… Drache. Auf seinem Rücken ritt eine Person mit rosa Augen und einem Schwert in der Hand, das sie in der Schlacht gegen uns richten würde.
Dem zu deuten, was sie gesagt hatte, musste Three unseren Feind auf dem Weg hierher gesehen haben. Schließlich war heute „jener Tag“ gekommen. Ich atmete tief ein und aus.
„Wie mir scheint, habe ich keine Zeit mehr.“
Nach all der Suche hatte ich keine Aufzeichnungen über die Utautai gefunden. Auch nichts darüber, was die Macht des Gesangs oder die Existenz der Apostel erklärte. Doch es war nicht zu ändern. Im Grunde war es unmöglich gewesen, die große Fülle an Büchern durchzuarbeiten.
„Wer mag wohl richtig liegen? Du, Schwester One? Oder Schwester Two? Vielleicht Schwester Four oder Schwester Five? Oder gar… Schwester Zero?“, sagte Three ohne zu lächeln.
„Jeder Mensch glaubt, er sei derjenige, der richtig liege.“
Wäre dies nicht so, wäre niemand fähig zu kämpfen. Keiner wäre stark genug, für etwas zu kämpfen, von dem er wüsste, es sei das Falsche. Daher sehnte ich mich nach Antworten. Antworten, die mir sagten, ich läge nicht falsch. Die meine Basis wären, warum ich kämpfen sollte. Bedeutete das Fehlen jeglicher Antworten etwa, dass Zweifel in mir aufkeimte…?
„Schwester One?“
Erst als Three fragend ihre Stimme erhob, bemerkte ich, dass ich lachte.
„Es ist nichts. Alles in Ordnung.“
Ganz gleich ob ich Antworten hatte oder nicht, es machte keinen Unterschied. Ob ich nun wusste, wer oder was die Utautai waren oder was es mit dem Sinn unserer Kräfte auf sich hatte, oder nicht, ich würde kämpfen. Was gab es da zu befürchten?
Das Buch in meiner Hand schließend, erhob ich mich vom Stuhl. Das schwache Gebrüll eines Drachen war zu hören. Kein Zweifel. Die Verräterin war bereits auf dem Weg hierher.
„Gehen wir. Lasst uns das Versprechen am heutigen Tag erfüllen.“
Three und ihrem Apostel folgend, ließ ich die Bibliothek hinter mir.