Michael — Die, die verschwinden

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Wie ich so darüber nachdachte… …hier gab es immer viele Kämpfe.

Immerzu musste ich… …nein, musste meine Wenigkeit kämpfen. Ob nun im schlafenden oder im wachen Zustand. Sogar in meinen Träumen.

Es war eine so lange Zeit vergangen, dass mir die Erinnerung an all das immer mehr zu entgleiten schien. Wie lang ich gekämpft, wie viele Feinde ich unter meinen Klauen und mit meinen Kiefern zerquetscht hatte. Sogar die Erinnerung daran, warum ich kämpfte. Schon so lange her.

***

„Ihr wertlosen Insekten! Sterbt!“

Es benötigte nur einen Atemzug. Mit nur einem leichten Feuerhauch setzte ich die hässlich-farbigen „Insekten“, wie ich sie nannte, in Flammen, sie leuchteten hell auf und zerfielen dann zu Asche. Da waren so viele schwache Feinde vor mir verteilt, so lächerlich schwach für einen Drachen mit einer so noblen Abstammung wie meiner. Keiner von ihnen könnte auch nur ein ansatzweise würdiger Gegner für mich sein, wobei nichts das Gefühl abschwächen könnte, was es mir gab, diese törichten Existenzen gänzlich zu zerstören – es war genau das, was ich brauchte, um meine Laune zu verbessern.

„Komm schon, komm schon, komm schon, komm schon!“

Sobald meine Flammen den Boden wieder sauber geleckt hatten, blieb nicht einmal der kleinste Rest an Staub zurück. Es war ziemlich erfrischend.

„Mein Name ist… …nein, der Name meiner Wenigkeit ist Michael, von der noblen Blutlinie der Drach— uagh!“

Eine Schmerzwelle zog meine ausgestreckten Flügel hinunter.

„Verdammt, da sind auch Marionetten?“

Während ein Schwarm dieser abstoßenden Insekten mich einpferchte, konnte ich flüchtig etwas erblicken, was aussah wie eine Art Projektil-Waffe. Dies waren keine gewöhnlichen Insekten, besaßen sie doch die Intelligenz, eine Waffe zu führen. Um ehrlich zu sein hasste ich sie. Wie war noch einmal der Name einer solchen Waffe…?

„Ahh! Egal, wie sie heißt!! Ihr nerviges Ungeziefer! Denkt ihr, ihr Maden der Erde hättet eine Chance gegen einen mächtigen Drachen wie mi— uuhgah!“

Erneut zog eine riesige Welle brennenden Schmerzes die gesamte Länge meines Flügels hinab, aber diesmal waren es viel mehr von ihnen.

„Na, kommt schon…! Lasst es mich nur zu Ende sagen… …uagh!“

Plötzlich schien es, als sei der Boden mit den Marionetten anstatt der Insekten überflutet. Nein, es war eher, dass ich zu tief in die Reihen des Feindes hinab geschwebt war. Man konnte sehen, dass sie eine Waffe von enormer Größe mit sich brachten, eine, die nur von vielen von ihnen gemeinsam bewegt werden konnte. Schlimmer noch, sie richteten sie auf mich.

„D-Das ist schlecht, oder…?“

Konnte flüchten? Nein, nein! Kein Drache mit Ehre würde vor solchem Gesindel flüchten. Aber… …diese Situation war wirklich schlecht… …

„Warum sitzt du nur hier rum!?“ schrie eine wütende Stimme an meiner Seite. Funkelnde Flammen trafen die Klinge und eliminierten auch einige der Marionetten.

„Immer in Schwierigkeiten…“, sagte jemand mit angeekelter Stimme und roten Flügeln.

Ich denke… …nein, definitiv hat er mir aus einer schwierigen Situation geholfen. Die Aussage, einem Freund in Not zu helfen, klänge wohl etwas zu großzügig, dennoch schätzte ich, dass viel Ehre in einer solchen Tat steckte, zumindest für uns Drachen.

„Was tust du hier mit offen stehendem Mund? Willst du wirklich einen sinnfreien Tod sterben?“

„S-sei still!“

Obwohl er mir gleich schien, war mir seine aufgeblasene Art zu viel. Es war mehr als nervig.

„Beeil dich und zieh dich zurück!“

„O-okay.“

Das war das erste Mal, dass ich den Roten Drachen traf.

***

„Steh auf, Michael.“

Der Klang dieser Stimme schreckte mich auf. Ich musste während des Kampfes in einen Traum abgeschweift sein. Und dann noch davon zu träumen, dem „aufdringlichen Roten Drachen“ zu begegnen!

„Du hast echt Nerven, mitten im Kampf wegzudösen.“

„S-sei still! Ich kann diese Ungeziefer mit einem Schlag ausschalten, sogar im Schlaf!“

Unzählige Kämpfe hatte ich bereits an der Seite des Roten bestritten. Ich schuldete ihm so viel, aber inzwischen war es schwierig, sich an das Gefühl der Dankbarkeit zu erinnern. Dieser Rote…

Und obwohl ich ihr meinen Namen genannt hatte, wartete ich noch immer darauf, dass sie mir ihren verriet. Viele der Alten legten ein derart snobhaftes Verhalten an den Tag, aber der Rote…

Würde ich ihn dazu befragen, wäre seine Antwort nur: „Es ist nicht unsere Art, uns vorzustellen.“ Schön für sie. Ich hatte kein Interesse daran, wie sie zu sein. Jene, die sich weigerten, ihre Namen preiszugeben, welche nicht einmal anständig konversieren konnten, ganz abgesehen von ihren Augen, die an tote Fische erinnerten, während sie kämpften.

Aber es machte mir riesigen Spaß, mit jeder Kampferfahrung stärker zu werden. Es fühlte sich herrlich ehrend an, seine eigene Stärke unter Beweis zu stellen. Es war so interessant, sich eine Möglichkeit zu überlegen, eine große Menge an Gegnern zu dezimieren. Ich würde es hassen, gegen meine Feinde zu verlieren, und es würde mich traurig machen, würden meine Freunde verletzt werden. Musste es sich für sie Alten nicht genauso anfühlen?

Ob sie siegten oder verloren, egal was genau vor ihren Augen passierte, sie waren immer still. Ich wollte so nicht sein. Was genau fanden sie interessant daran, so zu leben?

„Sag solche Dinge nicht, Michael. Irgendwann, wenn du solange gelebt hast wie wir, wirst du das alles verstehen.“, sagte der Rote immer, um eine Diskussion zu beenden.

Ich hasste es, wie er immer klang, als wüsste er alles, als verstünde er. Und wo lag der Sinn darin, mir zu sagen, ich würde es verstehen, wäre ich erst „so alt wie er“? Er konnte kaum mehr als ein paar tausend Jahre älter sein als ich.

Aber auch den grausamen und brutalen Schwarzen mochte ich nicht. Er schien ungefähr so alt wie der Rote zu sein. Seine willkürliche Rücksichtslosigkeit war schwer zu übersehen.

Wie die anderen Alten war auch er die meiste Zeit still, aber er war ein ausgezeichneter Kämpfer. Er mochte besonders starke Individuen gerne, was wohl der Hauptgrund war, wieso er mich ignorierte, wenn ich mit ihm sprach. Was für ein arroganter Scheißkerl er war!

„Denkst du wieder nach? Es ist nicht schlecht, seinen Kopf zu benutzen, aber es gibt für alles den passenden Zeitpunkt und Ort.“

„Sei still!“

Es war nicht so, als würde es mir Spaß bereiten, mitten im Kampf abgelenkt zu sein. Nein, ich wusste, dass es in etwa das Gefährlichste war, was mir passieren konnte. Aber wenn jemand das auch noch anmerken musste, brachte das mich um den Spaß. Also versuchte ich, das Thema zu wechseln.

„Hey, Roter Kerl. Hast du irgendeine Ahnung, wie lang dieser Krieg noch dauern wird?“

Eigentlich hatte ich nur vorgehabt, das Thema zu wechseln, aber in diesem Moment merkte ich, wie lange ich die Frage bereits hatte stellen wollen.

Wir hatten zu viele getötet, um mitzuzählen. So viele unzählige Tote, welche Berge an Leichen und Trümmern formten, die bis in den Himmel reichten. Und es ging weiter und weiter, ohne Ende. Mehr Feinde würden auftauchen, wie schnell wir sie auch eliminierten.

Wogegen kämpften wir? Nein, wir wussten, gegen was wir kämpften. Das meinte ich nicht. Ah, es machte mich verrückt. Ich konnte es nicht richtig in Worte fassen.

„Michael, ich weiß nicht mal, wann dieser Krieg begann, geschweige denn, wann er enden wird….“

Seine Worte brachen urplötzlich ab und alles wurde weiß.

***

„Was zum…? Es war ein Traum… …“

Merkwürdig. Ein Traum in einem Traum. Inmitten eines Schlachtfeldes hatte ich von einem anderen geträumt.

„Was ist los?“, hörte ich eine Stimme von meinem Rücken.

„Es ist nichts“, antwortete ich zu dem Soldaten, der auf mir saß. Er gehörte der Spezies „Mensch“, die aus dem anderen Krieg hervorgegangen war.

Der Krieg, von dem ich dachte, er würde nie enden, war plötzlich vorbei. Obwohl damals das Überleben vieler Spezies am seidenen Faden hing, war ich dennoch enttäuscht, dass er so abrupt endete. Das einzig Zerstörte war der Krieg selbst. Eine der Szenen aus jener Zeit war es gewesen, die in meinem Traum wieder aufgelebt war.

Der Moment, in dem „alles weiß wurde“, war einer heftigen Explosion geschuldet. Was für eine Explosion oder was sie verursacht hatte, das wusste ich nicht. Aber ihre Kraft war gewaltig gewesen, denn sie hatte mit einem Schlag die Feindmassen ausgelöscht, die zuvor unerschöpflich schien. Ihre Terrorgewalt war so extrem, dass sie selbst die Erdmassen umformte.

Vielleicht lag es an unseren physisch-starken Drachenkörpern, die unserer Spezies halfen, zu überleben, jedenfalls gab es viele andere, die es nicht taten. Trotzdem verloren wir über die Zeit mehr als die Hälfte unserer Art.

In Tagen, die längst vorüber waren, war der Himmel gefüllt mit Drachen aller Farben, doch inzwischen war es ungewöhnlich für uns, auf einen anderen von uns zu treffen. Der Himmel, welcher sich wie ein kleiner, schmaler Ort anfühlen sollte, entwickelte sich zu einem immer größer werdenden Nichts, das uns immer wieder an unsere gefallenen Kameraden erinnerte.

Obwohl ich wusste, dass sowohl der Rote als auch der Schwarze überlebt hatten, hatte ich beide sehr lange nicht gesehen.

Im Gegensatz zum Himmel schien der Boden immer schmaler zu werden. Die Welt war bis zum Anschlag gefüllt mit „Menschen“ und „Halb-Menschen“. Mit ihrer Fruchtbarkeit stellten sie die Verbreitung der Marionetten problemlos in den Schatten. Allerdings kam mit großer Fruchtbarkeit auch die Kurzlebigkeit. Und Schwäche. Sie wurden schnell müde und starben früh.

Selbst der Mann, den ich auf meinem Rücken trug, würde irgendwann vergehen, wie alle anderen vor ihm. Und ja, obwohl diese Menschen so schwach waren, kämpften sie weiter und griffen zu Waffen, die ihre Leben nur verkürzten. Ich konnte das nicht verstehen. Vielleicht war das der Grund, wieso ich unbedingt an ihrer Seite kämpfen wollte.

„Michael.“

Ich vernahm ein Zittern in der Stimme, die von meinem Rücken kam. Hatte er Angst? Was war das für ein Mann, der wie ein kleines, verängstigtes Mädchen klang?

„Es tut mir leid, dich hier mit hineingezogen zu habe.“

„Du missverstehst. Ich kann nicht besiegt werden, indem ich in die Probleme eines einfachen Menschen hineingezogen werde. Ich selbst habe entschieden, mit dir zu kämpfen. Eure trivialen Plänkeleien sind für uns Drachen wie ein Spiel. Wer, denkst du, bin ich? Wir haben so lange zusammen gekämpft, Berge an Müll und Leichen angehäuft…“

Es fühlte sich an, als würde er die gleichen Worte wiederholen. „Es tut mir leid.“ Das war es, was ihn menschlich machte.

„Lass uns gehen!“

Wir flogen auf eine Festung aus Trümmern zu und stürzten darauf los. Alle Soldaten, die an die Schlossmauern gereiht waren, wurden unausweichlich von meinen Flammen begrüßt…

***

„Ein weiterer Traum.“

Dieser letzte Kampf ließ den schlimmsten Geschmack in meinem Mund zurück. Vielleicht tauchte er deswegen in meinen Träumen auf. Nein, es schien immer einen bitteren Nachgeschmack zu hinterlassen, wenn ich zusammen mit Menschen kämpfte. Vielleicht, weil sie immer starben, bevor ich es tat.

Er war genauso. Am Ende starb er, sich entschuldigend, und diese dämlichen Wörter, „Es tut mir leid“, für mich zurücklassend. Wofür musste er sich entschuldigen? Ich hatte ihm wieder und wieder gesagt, er solle sich nicht entschuldigen.

Während seine Leiche sich abkühlte und sich die Stille über die steinigen Berge legte, war ich geschockt. Es war offensichtlich, dass Menschen schnell starben. Natürlich, ich wusste das. Aber es war unglaublich, dass ich immer noch dieses Gefühl des Verlustes empfand.

Das war der Moment, in dem er zurückkam, der Schwarze. Nach so vielen Jahren, warum musste er sein Gesicht jetzt zeigen, zu so einem Zeitpunkt? Er sah mich einen Moment lang an und dann, ohne ein Wort zu sagen, erhob er sich in den Himmel und flog davon. Doch seine Augen sprachen zu mir, sowohl neckend als auch bemitleidend. Es war, als sprächen sie zu mir: „Das kommt davon, wenn dein Herz den Menschen gegenüber öffnest.“

Ich wusste das, ohne dass es gesagt wurde. Selbst wenn sie einen Kampf gewännen oder verlören, Menschen starben. Sie starben so schnell. Selbst wenn der Sieg ihrer war, war es nur ein kurzer Moment. Wie sinnlos war es in diesem Falle für sie, zu kämpfen?

Nein, das galt nicht nur für die Menschen, richtig? War nicht auch unser Kampf, der Kampf der Drachen, ebenso bedeutungslos?

Für so lange, lange Zeit hatte ich gekämpft und viele Freunde verloren. Selbst der Gedanke an die Alten bewirkte in mir ein nostalgisches Gefühl.

Hätte dieser Krieg nicht stattgefunden, wären sie möglicherweise alle noch hier, hingen, schweigsam und schlechtgelaunt herum, um so wenig Spaß wie nur möglich zu haben.

Plötzlich erinnerte ich mich an die Worte des Roten.

„Sag solche Dinge nicht, Michael. Irgendwann, wenn du solange gelebt hast wie wir, wirst du das alles verstehen.“

Wir waren nicht so weit auseinander, was unser Alter anging, und dennoch wusste er es, er verstand. Ein langes Leben zu leben bedeutete… …Verlust, Verlassenheit und Einsamkeit zu erfahren. Niemals etwas zu bewirken… …

Wahrscheinlich war es tief in meinem Herzen mein Wunsch gewesen, dadurch, den Menschen zu helfen, etwas zu bekommen. So kurzlebig zu sein und trotzdem die Waffen zu erheben… …Sie mussten irgendetwas wissen, was wir langlebenden Drachen nicht wussten.

Doch es lief auf das Gleiche hinaus. Egal, wie oft ich es wiederholte, am Ende blieb nichts. Nichts.

„Hallo? Was ist das für ein Ort? Ist hier jemand?“

Bevor ich es merkte, war alles um mich herum in ein tiefes Schwarz getaucht worden. Es gab keine Andeutungen von etwas Lebendigem oder Totem. Es gab einfach nichts.

„Ist hier… …niemand?“

Pff. Das war nur eine Weiterführung dieser dämlichen Träume, nicht wahr? Es war egal. Ich würde bald aufwachen. Wieder genau inmitten eines Kampfes. Schlacht um Schlacht. Ernsthaft, es reichte mir mit den Kämpfen und dem ganzen Kram. Es wiederholte sich und blieb gleich, wieder und wieder. Alles verschwand am Ende.

Ich schätzte, das war mit Kämpfen und Träumen gleich. Im Endeffekt verschwand alles im Nichts.

Alles war weg. Nichts. Zero… …

***

„Au-au-au-au!“

Etwas traf mich von unten am Kiefer. Dieses Mal war ich definitiv wach.

„In deiner Nähe zu schlafen ist grauenhaft, dieses Herumgewälze und -gedrehe… …“

Diejenige, die mich getreten hatte, war ein Mensch, den ich erst vor Kurzem Zero genannt hatte. Sie war eine unsensible, gewalttätige, faule Frau mit unersättlichem Appetit und unanständiger Sprechweise. Ihr fehlte außerdem jegliche Angst vor uns Drachen und sie nannte mich oft „dumm“. Also wirklich.

Und zu sagen, ihr Schlafverhalten wäre schlecht, war eine lächerliche Untertreibung. Sie trat die ganze Zeit um sich und versuchte, meine Schwingen als Decke zu verwenden… …Meine Schwingen waren definitiv keine Decke.

Aber das war es, was ich interessant fand. Diese Frau war anders als alle Menschen, die ich bislang getroffen hatte. Natürlich war sie das, denn es gab wohl niemanden auf der Welt, der ihren Wunsch teilte: Ihre kleinen Schwestern zu töten.

Leider glaubte ich jedoch, dass unsere gemeinsame Zeit nicht von langer Dauer sein würde. Bald würde diese Frau mich, wie all ihre Vorgänger, zurücklassen. Das war die eine Sache, die sich nie änderte ̶ Sie alle würden aus meinem Leben verschwinden.

Nur, es war mir egal. Ich wollte es mit meinen eigenen Augen sehen. Wir gaben einander ein Versprechen, und wenn sie ihre Mission erfüllte und all ihre Schwestern getötet hätte, wäre es meine Aufgabe… …

„Ich werde dieses Versprechen einhalten, das schwöre ich. Egal, was passiert, ich werde nicht kneifen. Im Namen meiner noblen Abstammung eines Drachen, Ich— Auuu! Du hast mich wieder getreten! Lass es mich doch nur einmal zu Ende sagen… …“

„Zzz… …“, war das einzige Geräusch, was mich als Antwort erwartete. Im Einschlafen war sie extrem bewandert.

Seufz. Oh, nun gut. Es machte mir trotz allem Freude.