ShinRas Geschichte: Kapitel 4

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„Tseng, Reno, Rude, Elena“, rief Rufus sie der Reihe nach auf. Es war der Morgen nachdem der Lebensstrom aus der Erde ausgebrochen war, und die vier waren die letzten verbliebenen Turks. Rufus fuhr fort: „Was wollen Sie jetzt tun?“

„Wußte gar nicht, daß ich nicht mehr für Sie arbeite.“

Die anderen pflichteten Reno bei.

Also gab Rufus ihnen zwei Aufträge: Zunächst sollten sie sich in Midgar umschauen und herausfinden, wie es um die Stadt bestellt war. Dann ging es darum, Verbündete zu suchen.

„Nur weil jemand für ShinRa gearbeitet hat, macht ihn das noch nicht zu unserem Verbündeten. Verstanden?“

„Verstanden. Aber warum suchen wir überhaupt nach Verbündeten? Was haben Sie vor?”

„Erstmal will ich nur Informationen. Jede Art von Informationen, selbst wenn sie unwichtig erscheinen.“

Rufus hatte zahlreiche angeknackste Rippen, ein Knöchel war gebrochen. Die Schmerzen waren fürchterlich, und er saß in einem Rollstuhl. Immer noch strahlte er Würde aus.

Während des Fußmarsches nach Midgar teilten sich die Turks in zwei Teams auf. Tseng und Elena sollten Informationen beschaffen, während Reno und Rude Ausschau nach Verbündeten hielten.

„Avalanche hat immer behauptet, ShinRa sei der Feind des Planeten“, sagte Reno.

„Ja.“

„Das stimmt wohl.“

„Wieso?“

„Schau.“

Der Lebensstrom hatte den Planeten gerettet, aber Midgar nicht geschont. Die Stadt war nicht vollkommen dem Erdboden gleich gemacht worden, doch der Wiederaufbau würde fast unmöglich sein. Es schien fast, als hätte der Planet sie zu einer Existenz zwischen Leben und Tod verurteilt – ein ewiges Fegefeuer für die Menschheit. Inzwischen hatte es sich rumgesprochen, daß ShinRa keinen Anteil an der Rettung des Planeten gehabt hatte.  Haß machte sich breit; die Leute brauchten einen Sündenbock, den sie für ihr Elend verantwortlich machen konnten.

Als die beiden Männer Sektor 0 erreichten, warteten bereits zahlreiche Menschen vor dem ShinRa-Gebäude. Sie wollten von der Firma wissen, wie es jetzt weitergehen sollte.

„Welche Ironie“, spottete Reno, nachdem er den Gesprächen gelauscht hatte. Für all diese Menschen war der ShinRa-Konzern das Böse schlechthin; trotzdem hofften sie, ShinRa würde ihnen aus dem Schlamassel heraushelfen.

„Am liebsten würde ich meine Socken nehmen und denen das Maul damit stopfen.“

„Nur zu. Ich hindere dich bestimmt nicht daran.“

„Aber ich habe nur noch das eine Paar.“

*** *** ***

Derweil hatten Tseng und Elena sich in die Unterstadt begeben. Ihr Ziel war der Wall Market in den Slums von Sektor 6. Es war keine Gegend, die man gerne aufsuchte, aber man konnte hier viele Dinge in Erfahrung bringen, wie die Turks von früheren Aufenthalten her wußten.  Es war ein einziges Durcheinander: Trümmer von der Oberfläche waren herabgestürzt und hatten den Ort verheert. Das Elend paßte zu dem Bild, das man von den Slums besaß.

Auf dem Weg hatten Tseng und Elena mehr als einmal erlebt, wie Leute auf den Konzern schimpften. Einmal waren sie sogar mit Steinen beworfen worden, als man ihrer Turk-Uniformen gewahr wurde.

„So fallen wir zu sehr auf. Wir sollten  unsere Kleidung wechseln.“

Sie machten ein kleines Kaufhaus ausfindig und kleideten sich neu ein.  Tseng wählte ein knallbuntes Hemd, das an einen Costa-del-Sol-Urlauber erinnerte. Elena entschied sich für ein Mini-Kleid. In diesem Aufzug betraten sie die nächste Kneipe, wo sie hofften, Informationen zu bekommen. Tatsächlich war es drinnen gerammelt voll. In einer Ecke fanden sie zwei leere Sitze, von wo aus sie die anwesenden Gäste in Augenschein nahmen. Ein Mann in einem schwarzen Hemd fesselte Tsengs Aufmerksamkeit. Er lag reglos über einem Tisch ausgebreitet, an dem vier Personen Platz gehabt hätten.

„Er schläft doch nur, oder?“

„Er könnte auch…“

„Tseng!“

„Ja? “

„Ein Grund, warum ich noch bei der Truppe bin, ist weil mein Stolz mich dazu zwingt, aber eigentlich liegt es an…“

Elena hatte nie einen Hehl aus ihrem Interesse an Tseng gemacht, aber da er nun direkt vor ihr saß, konnte sie ihre Gefühle für ihn nicht in Worte fassen.

„Fahren Sie fort. Ich bin nicht von Ihnen gewohnt, daß Sie so schweigsam sind. Erzählen Sie irgendetwas, und wenn es bloß Unsinn ist.“

„Unsinn“, seufzte Elena. Sie warf Tseng einen Blick zu. Er schien ihr ohnehin nicht richtig zuzuhören, immer noch beobachtete er den schlafenden Mann mit dem schwarzen Hemd.

„Das ist merkwürdig“, bemerkte Tseng noch, bevor er aufstand und geradewegs auf den seltsamen Mann zuhielt. Er rief ihm zu: „Alles in Ordnung?“

Doch der Mann rührte sich nicht. Tseng ergriff seine Schulter, um sie zu schütteln, aber zog die Hand rasch zurück, als er die klebrige schwarze Masse auf seiner Handfläche bemerkte. Das Hemd hatte verhindert, daß er die Masse, die den Mann über und über bedeckte, sofort entdecken konnte.

„Was ist los?“, wollte Elena wissen, die Tseng gefolgt war.

„Er ist tot.“

*** *** ***

Reno und Rude befanden sich in der Lobby des ShinRa-Gebäudes. Reno stand vor einer mannsgroßen Reklamefläche, die er wie folgt überschrieb:

Wer flüchten will, soll den Zuggleisen folgen. Es verkehren derzeit keine Züge. Wiederaufnahme aller Dienste ungewiß. Hier gibt es keine Vorräte. ShinRa hat vorübergehend alle Tätigkeiten eingestellt.

*** *** ***

Das Haus in Kalm hatte zwei Etagen. Im Erdgeschoß befanden sich Wohnzimmer, Speisesaal, eine kleine Küche, Bad und Toiletten. Im ersten Stock waren drei Schlafzimmer. In einem davon war Rufus. Sein Knöchel war eingegipst worden, Nacken, Brust und Hüfte bandagiert. Ohne den Rollstuhl konnte er sich kaum fortbewegen.

Rufus ließ seinen Blick über das Städtchen schweifen. Die Vorhänge waren geschlossen, doch durch einen Spalt konnte er das Geschehen in den Straßen gut überblicken.  Kalm war durch den Lebensstrom in Mitleidenschaft gezogen worden, doch anders als in Midgar waren die Häuser weiterhin bewohnbar. Den ganzen Tag über waren Flüchtlinge aus ShinRas alter Hauptstadt herbeigeströmt, in der Hoffnung, hier Obdach zu finden. Rufus hätte gerne mit ihnen gesprochen, doch ohne Leibwache konnte er nicht riskieren, das  Haus zu verlassen. Ihm jagte ein Schauer über den Rücken, als er daran dachte, daß lediglich eine dünne Hauswand ihn von der aufgebrachten, verängstigten Menge dort draußen trennte. Anders als das mächtige ShinRa-Gebäude bot dieser Ort keinen Schutz. Tseng hatte darauf bestanden, jemanden als Wache abzukommandieren, was Rufus jedoch zurückgewiesen hatte. Ein bitteres Grinsen stahl sich in sein Gesicht. Wieder mußte er über die Vergangenheit grübeln. Das ShinRa-Gebäude war eine Festung, eine sichere Festung, die sein Vater für ihn errichtet hatte. Man könnte sagen, das Gebäude symbolisierte seine väterliche Macht. Doch ein Sohn muß früher oder später das Haus seines Vaters verlassen, und sich selbst nach oben kämpfen. So ist das Leben. Und jetzt war diese Zeit für ihn gekommen. Es kam ihm nun töricht vor, daß er sich vor den Leuten fürchtete. Er mußte diese Herausforderung annehmen und seine Aufgabe erfüllen: die Welt wiedererrichten.

Es klingelte an der Tür. Pause. Noch einmal. Rufus ignorierte es. Dann schellte es erneut. Diesmal klang es gereizt. Sicher war es niemand, den er kannte. Nun hörte er, wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte. Kein Zweifel, die wollten hinein. Rufus rollte zum Bett und zog eine Pistole unter dem Kopfkissen hervor. Er hoffte, daß er sie nicht brauchen würde, aber sicher war sicher. Die Waffe verschwand in seinem weiten Ärmel. Zur Sicherheit ergriff er einen der Stühle, und mühte sich ab, ihn an die Tür zu bringen. Die Lehne platzierte er unter dem Griff, sodaß sie von außen nicht so leicht zu öffnen war.

Unten hörte er Glas splittern. Sie waren jetzt im Haus.

„Oh weh“, murmelte er. Er entsicherte die Waffe.

*** *** ***

Es war Abend geworden. Elena und Tseng befanden sich auf dem Rückmarsch nach Kalm. Ihr Gespräch drehte sich um die neue Krankheit, die sie in den Slums entdeckt hatten. Viele Leute dort litten an den Symptomen, die den Mann in der Bar ums Leben gebracht hatten.

„Konnten Sie noch etwas herausfinden, während ich schlief?“

„Nein. Es ist das erste Mal, daß ich soetwas sehe.“

Tseng überlegte: Mit anderen Worten: Wir wissen nichts über diese Krankheit. Sie scheint sich erst seit heute zu verbreiten. Was ist der Unterschied zwischen gestern und heute? Natürlich – der Lebensstrom. Er hat wohl nicht nur die Stadt zerstört. Er bestraft auch uns.

„Ich hoffe, die Leute bleiben ruhig.“

„Das kann man nie wissen.“

Elena dachte daran, wie die Leute in der Bar in Panik geraten waren, nachdem sie den Tod des Mannes festgestellt hatten. Erst waren sie neugierig gewesen. Dann sagte einer: Das ist ansteckend. Chaos brach aus, als jeder so schnell wie möglich den Laden verlassen wollte.

*** *** ***

Reno und Rude waren etwas früher aufgebrochen, und ihren Kollegen voraus. Am liebsten hätten sie einen Helikopter genommen, oder zumindest ein Auto, doch da sie nicht wußten, ob sie in Zukunft an Treibstoff gelangen würden, schonten sie ihre Vorräte.

„Morgen nach Sektor 5?“

„Der Wohnbezirk der Firma? Was sollen wir dort? Oder glaubst du, wir können dort einige ShinRa-Leute rekrutieren?”

„Dort ist auch ein Lagerhaus von ShinRa. Ich würde gerne einige Fahrzeuge beschaffen… und Waffen.“

„Waffen. Ja, die werden wir brauchen.“

Reno seufzte bei dem Gedanken an die Bewohner Midgars, die keinen Hehl aus ihrem Haß auf den Konzern machten.

*** *** ***

Die Männer kreisten Rufus ein.

„Sie schlecht für Dich aus, Herr Präsident“, sagte ein unrasierter Mann, dessen Gewehr auf Rufus’ Brust gerichtet war.

„Tatsächlich. Es gibt nichts Gefährlicheres als einen aufgebrachten Mob von Idioten.“ Er sah den Haß in den rot geäderten Augen des anderen. Ihn war klar, daß er aus dieser Situation nicht lebend herauskommen würde. Er hatte immer noch die Pistole in seinem Ärmel. Einen oder zwei konnte er erledigen. Doch sie waren zu dritt. Unten konnte er weitere Männer hören. Er hatte keine Chance gegen sie alle.

„Vielleicht sind wir Idioten, aber wir wissen, wer die Verantwortung für das hier trägt.“

„Dann sag mir eins: Was macht ihr, wenn ihr dieses Haus verlassen habt? Habt ihr jemals an die Zukunft gedacht?“

„Keine Ahnung, was du meinst.“

„Laß es mich so sagen: Es gibt zwei Sorten von Menschen auf der Welt: Die einen befehlen, die anderen gehorchen. Das ist eine Sache des Talents. In Krisen müssen die Befehlshaber häufig dran glauben. Aber was wollen die anderen ohne sie tun? Verstehst du, ohne Leute wie mich geht alles den Bach runter.“

„Du bettelst nicht gerade geschickt um dein Leben“, höhnte der Angreifer.

„Du führst ein paar Leute. Im Moment gehorchen sie dir. Aber was sind deine Pläne für die Zukunft? Was kannst du ihnen schon bieten?“

„Wir sind nur ein Mob von Idioten. Für uns zählt nur, was jetzt ist. Scheiß auf morgen.“

„Das gilt vielleicht für dich, nicht für deine Leute“, entgegnete Rufus, dem nicht entgangen war, daß die beiden anderen Männer ihren Anführer aufmerksam beobachteten.

„Und Sie, Sie haben einen Plan, oder wie?“, wollte einer der beiden wissen.

Rufus wandte sich ihm zu. Vermutlich Mitte dreißig. Gedrungene Statur. Er trug ein marineblaues Jackett, teurer Stoff, indes abgenutzt. Er schien wohlhabend zu sein.

„Aber sicherlich. Als allererstes müßt ihr eure Häuser verbarrikadieren. In Kalm ist kein Platz für die Flüchtlinge aus Midgar. Ihr seid doch Einheimische, nicht wahr?“

Zustimmung.

„Wollt ihr, daß es hier bald so zugeht wie in Midgar?“

„Es ist unsere Pflicht, diesen armen Menschen zu helfen“, unterbrach der Mann mit dem Gewehr. Doch seine Begleiter schienen nicht überzeugt, Rufus‘ Worte hatten sie nachdenklich gemacht.

„Macht euch das mal klar: Es sind tausende Verwundete. Wo sollen die hin? Wer wird sich um sie kümmern? Bald wird es regnen. Wo könnt ihr die vielen Flüchtlinge sicher unterbringen? Midgar hat so viele Einwohner, sie können nicht alle hierhin kommen. Zuletzt: Wenn euch euer eigenes Leben nicht mehr interessiert, wie wollt ihr diesen Mutlosen neue Hoffnung geben?“

„Schnauze“, brüllte der Mann. Rufus ließ sich davon nicht beeindrucken. Er gratulierte sich innerlich dazu, daß er die Männer richtig eingeschätzt hatte.

„Nun, Sie könnten Recht haben. Was würden Sie uns raten?“, begehrte der Mann in dem blauen Jackett zu wissen. Rufus war zunehmend sicher, daß es sich um den wahren Anführer handelte.

„Wenn ich Ihnen das sage, bringen Sie mich um.“

*** *** ***

Die Veränderungen waren unübersehbar, als Reno und Rude nach Kalm zurückkamen.

„So viele Menschen.“

Das gleiche Bild bot sich ihnen, als sie zu ihrer neuen Bleibe kamen: Fremde gingen ein und aus, wie es ihnen gefiel.

„Chef!“

Sie starrten durch die Tür, wo Männer und Frauen schlaff auf dem Boden lagen.

„Die sind krank.“

Rude hatte recht. Die Kranken wiesen dieselben Symptome auf, die sie in Midgar gesehen hatten – von Kleidern und Verbänden triefte eine eklige schwarze Flüssigkeit.

„Rude, sieh du hier unten nach.“

Reno spurtete die Treppe hoch, wobei er darauf achtete, die Kranken nicht zu berühren. Oben bot sich ihm das gleiche Bild wie im Erdgeschoß. Ratlos ob der Abwesenheit seines Chefs, kehrte er nach unten zurück. Dort wartete Rude schon auf ihn.

„Hier unten ist er auch nicht.“

„Ernsthaft, Partner, laß abhauen. Sonst kriegen wir auch noch, was die haben…“

Einer der Kranken blickte Rude hoffnungsvoll an. Er brachte ein gequältes Lächeln zustande, und sah zu, daß er und Reno hier schnell verschwanden.

Draußen liefen sie Tseng und Elena in die Arme.

„Chef, die haben uns unser Haus weggenommen.“ Reno setzte zu einer Zusammenfassung der Situation an.

„Wir müssen schnell den Präsidenten finden. Er wurde wohl fortgebracht. Bringt in Erfahrung, ob irgendjemand etwas gesehen hat.“

„Ich frage drinnen nach. Mir werden sie nichts tun“, sagte Elena.

„Elena, sei vorsichtig. Die haben alle die Krankheit.“

„Wenn es übertragbar ist, habe ich mich schon längst angesteckt“, entgegnete die junge Frau.

„Also dann…“

„Los jetzt, sucht nach Zeugen“, wies Tseng sie an. Reno und Rude zogen los.

*** *** ***

Bei ihrer Rückkehr konnten sie lediglich berichten, überall auf Ablehnung gestoßen zu sein. Niemand hatte ihnen etwas zu den Vorfällen am ShinRa-Haus sagen können oder wollen.

„Daran können wir jetzt nichts ändern.“ Und im Stillen dachte er: Selbst wenn es Zeugen gibt, würden sie uns kaum freiwillig erzählen, was wir wissen wollen.

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