ShinRas Geschichte: Kapitel 5

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Rufus schätzte, daß er seit zwei Wochen festgehalten wurde. Man hatte ihn zunächst entwaffnet und dann betäubt, damit er sich später nicht würde erinnern können, wohin man ihn gebracht hatte. Doch Rufus hatte den Namen des blaugekleideten Mannes gehört: Er lautete Mutten. Selbst wenn Mutten nicht sein richtiger Name war, so glaubte Rufus doch, daß er sich in der Villa dieses Mannes befand; vermutlich in einem Kellerraum. Über sich hörte er tagsüber die Schritte zahlreicher Personen. Vielleicht waren es Flüchtlinge, und er lag falsch mit seiner Vermutung. Andererseits war es genauso gut möglich, daß Mutten einige Leute in seinem Haus versammelte. Ihm blieb nichts übrig, als auf seine Befreiung durch die Turks zu warten.

Der Raum vermittelte auf den ersten Blick eine gewisse Nobilität. Aber auch einen erschreckenden Geschmack. Er sah Verzierungen an den Möbeln, die entsetzliche Mißgeburten, halb Mensch, halb Monster, zeigten. An den Wänden gab es Haken, an einem davon hatte man die Kette um sein Bein befestigt. Rufus gruselte es bei dem Gedanken, was für ein Mensch sich so einen Raum einrichtete. Daß die Kette seinen Bewegungen enge Grenzen setzte, besserte die Situation keineswegs.

Man hatte Rufus seiner Freiheit beraubt, doch davon abgesehen legte Mutten Wert darauf, daß Rufus wie ein Gast behandelt wurde. Eine Frau mittleren Alters mit ausgezeichneten Manieren versorgte ihn mit Essen und war auch sonst bestrebt, sich gut um ihn zu kümmern. Indes schien sie Anweisung zu haben, nicht auf seine Fragen einzugehen.

Einmal kam ein Arzt, um nach Rufus zu sehen. Er unterzog den ehemaligen Präsidenten einer raschen Untersuchung, verschrieb ein Medikament und ging. Rufus konnte nicht einmal fragen, ob er wisse, daß er ShinRas Präsident sei. Er überlegte, ob er laut rufen sollte, wenn er jemanden vorbeigehen hörte, verwarf den Gedanken aber wieder. Es erschien nicht sicher.

Alle paar Tage ließ sich Mutten bei ihm sehen. Er wollte Rufus’ Pläne für die zukünftige Gestaltung Midgars erfahren. Diese Pläne hingen indes von den gesammelten Informationen der Turks ab, die zu kontaktieren ihm sicher nicht gestattet war. Also enthüllte er Mutten nur Bruchstücke seiner Gedanken, und berief sich auf fehlendes Wissen: Rufus hatte vor, eine Stadt auf den Ebenen östlich von Midgar zu errichten. Dort war der Untergrund eben, und es sollte leicht fallen, zu bauen. Das Altmaterial aus Midgar könnte man als Baustoff verwenden. Werkzeuge und Maschinen standen in einer Lagerhalle in Sektor 5 bereit.

Rufus wollte Zeit gewinnen, indem er möglichst wenig preisgab. Denn sicher war, daß Mutten ihn umbringen würde, wenn er alles von Rufus erfahren hätte. Bitter verglich er sich mit einem Hofsänger, der seinen König jede Nacht aufs Neue mit Geschichten erfreuen muß, oder andernfalls das Schafott besteigen würde.

„Erzähl mir alles. Ich lasse dich leben.“

„Nimm die Kette von meinem Bein. Ich laufe nicht weg.“

Der Tag, an dem wir uns vertrauen, wird niemals kommen, wußte Rufus.

*** *** ***

Die Turks hatten einige Informationen einholen können, doch das reichte nicht, um den Aufenthaltsort ihres Präsidenten in Erfahrung zu bringen. Tseng wollte die Suche nicht aufgeben. Mittlerweile hatten sie das Haus in Kalm – das sich ohnehin fest in der Hand der Flüchtlinge befand – geräumt, und ihr Quartier in einer der Firmen-Wohnungen in Sektor 5 aufgeschlagen. Elenas Rat folgend, verbreiteten sie das Gerücht, Midgar würde bald in sich zusammenfallen. Doch Midgar, nun ein Hort der Krankheit und der Trümmer, war auch ohne diese Gerüchte bald zur Geisterstadt geworden. Allein wollte Tseng die Leute so schnell wie möglich loswerden. Midgar barg zahlreiche Geheimnisse des Konzerns, und unter allen Umständen wollte er vermeiden, daß jemand ShinRas Waffensysteme in die Hände bekam.

„Es gibt Schwierigekeiten“, berichtete Reno. „Ehemalige Soldaten aus Junon haben das Hauptquartier übernommen. Es dürften so um die 100 sein. Ein Mann namens Gate irgendwer oder so, von der Kadettenschule, ist ihr Anführer.“

„Was hat er vor?“

„Keine Ahnung. Ich hatte den Eindruck, sie würden sich für so eine Art Versammlung vorbereiten.“

Tseng und Elena wollten sich selbst ein Bild von dieser Sache machen. Derweil Reno und Rude sich aufmachten, einige Waffen sicherzustellen.

*** *** ***

Sektor 5 war eine Wohngegend, die ShinRa errichtet hatte. Das Viertel war geprägt durch seine Mietskasernen, die eng beieinander standen. Abseits, direkt neben dem Mako-Reaktor, befand sich besagtes Lagerhaus. Es wurde von einer hohen Mauer umgeben und hatte genau einen einzigen Zugang: Ein massives Tor, das sich nur nach Eingabe der korrekten Kombination öffnete. Es existierte darüber hinaus ein Notfall-Paßwort, bekannt nur den höchsten Firmenkreisen. Dieses Paßwort erlaubte es, jeden gewöhnlichen Code zu überbrücken und nachträglich zu ändern. Reno und Rude beeilten sich, dieses Master-Paßwort, das Tseng ihnen anvertraut hatte, einzugeben. Doch als sie das Tor durchschritten und sich dem Haupteingang des Lagers näherten, stand die Tür weit offen.

„War das die Armee?“

„Wahrscheinlich.“

Sie waren auf der Hut, als sie sich auf den Weg nach Sektor 8 machten. Auch dort befand sich ein ShinRa-Waffenlager. In Sektor 4 aber bemerkten sie Machenschaften an dem dortigen Depot. Aus dem Verborgenen beobachteten sie die Situation.

„Hey, das sind bloß normale Leute.“

Sie sahen junge und alte Menschen beiderlei Geschlechts. Sogar einige Kinder.

„Hier lagern Baumaschinen und Werkzeuge.“

Die beiden Turks sahen zu, wie eine Gruppe eine mittelgroße Maschine aus dem Lager trug. Ihnen folgten Kinder, beladen mit kleineren Werkzeugen wie Bohrmaschinen.

„Was wollen die nur mit dem Kram?“

Kaum hatte er es ausgesprochen, ertönten freudige Rufe aus Sektor 5. Auch dort hatten sie die Tore öffnen können.

„Ganz schlecht, Reno. Die Notfall-Kraftstofftanks sind dort drüben.“

„Mako?“

„Nein. Benzin, das wir für Notfälle aufheben. Wir werden es bald brauchen.“

„Klingt übel.“

Um diese Sache einvernehmlich zu klären, begaben sie sich zu der Menge, und sagten, so harmlos sie konnten: „Wir kommen von ShinRa. Wer hat hier das Sagen?“

„Das bin ich“, entgegnete eine gutgekleidete junge Frau. Sie sah wie Teenager aus.

„Oh“, staunte Reno. „Und was treibt ihr hier?“, fügte er halblaut hinzu. Die junge Frau wirkte mit einem Mal eingeschüchtert.

„Es wurde uns gesagt, wir sollen diese Maschinen holen. Für die neue Stadt…“

„Von wem? “

„Herr Kylegate, von der Armee.“

„Also war es Kylegate, der euch verraten hat, wie ihr die Tore und Türen zu den Lagerhäusern öffnen könnt?“

„Ja, ganz genau. Entschuldigen Sie, haben wir etwas falsch gemacht? Uns wurde gesagt, daß die ShinRa-Armee unabhängig geworden sei und hier eine neue Stadt errichtet. Da haben wir uns als Freiwillige gemeldet.“

Reno und Rude tauschten einen Blick, während das Mädchen sie immer noch etwas ängstlich taxierte. Sie fragten sich, was die Armee vorhatte. Doch das Mädchen und die anderen Leute waren offensichtlich harmlose Helfer.

„Nun, wenn ihr nur diese Werkzeuge mitnehmt, haben wir kein Problem damit“, sagte Reno, dabei er Rude sachte zunickte.

Der ergänzte rasch: „Aber nehmt von dem Treibstoff nur, was ihr unbedingt braucht. Der wird rationiert.“

„Jawohl!“

Das Mädchen ging wieder an die Arbeit. Rude und Reno sahen dem Treiben zu. Als der Letzte einen kleinen Generator herausgetragen hatte, verabschiedeten sich die Helfer überschwänglich von den Turks.

„Midgar steht eine glänzende Zukunft bevor.“

„Das wissen wir noch nicht. Los jetzt.“

„Was?“

„Wir müssen sofort Fahrzeuge, Waffen und Treibstoff sichern. Wir müssen alle Paßwörter ändern. Die Türen, Tore – alles.“

In der späten Nacht stießen Tseng und Elena zu ihnen und halfen bei der beschwerlichen Arbeit, die sich trotz vereinter Kräfte bis in die Morgenstunden hinzog. Zuhause wollten die Vier ein Nickerchen halten, doch bald schon wurden sie von Veld geweckt.

„Dafür daß Sie ein alter, totgeglaubter Mann sind, haben Sie mich sehr überrascht.“

„Ich sollte überrascht sein, daß Turks solange schlafen.“

„Wir freuen uns bloß so sehr, Sie wiederzusehen.“

Auf Renos Lächeln antwortete Veld nur mit Schweigen. Dann setzte er zu einem Bericht über den Kapitänleutnant Kylegate aus Junon an: „Alle glaubten, der Leutnant sei auf Urlaub. Doch er versammelte stattdessen seine Truppen hier in Midgar. Heute Morgen hat er eine Versammlung im Osten organisiert. In seiner Rede hat er die Errichtung einer neuen Stadt gefordert, und befürwortet, die benötigten Mittel von ShinRa zu nehmen….“

„Veld… Sir“, begann Tseng, der nicht wußte, wie er seinen früheren Vorgesetzten korrekt anzusprechen hatte.  „Ihre Informationen bestätigen, was wir selbst schon herausgefunden haben. Doch sagen Sie mir bitte: Aus welchen Gründen sind Sie damit zu uns gekommen?“

Reno und Rude wechselten einen verdutzten Blick. Sie wunderten sich über Tseng, war Veld doch für sie alle ein Vater gewesen, der die Turks großgezogen hatte.

„Es gibt einen Grund.“ Velds Augen wurden zu Schlitzen. „Ausgleichende Gerechtigkeit, oder sollte ich sagen, ich revanchiere mich für einen Gefallen?“

„Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, aber Sie schulden mir nichts.“

„Was zum Teufel soll“, unterbrach Reno sichtlich verwirrt, „dieses Gerede über alte Schulden? Wen interessiert denn das? Ich bin einfach…“

„Einfach was?“, fragte Tseng. Doch Reno verfiel in Schweigen.

Veld ergriff wieder das Wort: „Reno. Ihr Turks seid wie meine…“ Doch er brachte diese Worte nicht über die Lippen. Eine unangenehme Stille machte sich breit. Es war Reno, der als erstes seine Stimme wiederfand. Vielleicht weil er bereute, sich wie ein Kindskopf aufgeführt zu haben, schlug er einen bewußt nüchternen Ton an: „Gestern haben Freiwillige Werkzeuge aus einem ShinRa-Lager abgeholt.“

„Doch ein Leutnant dürfte die Codes nicht kennen“, ergänzte Rude.

„Das ist das Stichwort: Dieser Leutnant hat sich vor kurzem in Kalm aufgehalten. Er kennt Codewörter, die er nicht kennen sollte. Von wem wohl hätte er sie erfahren können? Wohin ist der Präsident verschwunden?“

Die Argumentation war klar, plötzlich war alles auf den Beinen, doch Tseng gab Zeichen, sich wieder zu setzen. Ruhig fragte er: „Was für ein Mann ist dieser Kylegate?“

Veld teilte ihnen mit, was er über Kylegate wußte: Er war der Sproß einer wohlhabenden Familie. Nach dem Tod seiner Eltern wurde er Familienoberhaupt. Der Armee hat er sich – angesichts seines Status’ – nicht wegen des Geldes angeschlossen, sondern, so schien es, weil er an ShinRas Mission glaubte, die Welt zu befrieden. Ein hervorragender Soldat, indes eine schwierige Person.

„Folter. Grausamkeiten. Egal ob bei der Ausbildung oder auf dem Schlachtfeld, er mußte immer alles übertreiben. Manche sagen, er ging nur zur Armee, um diese Triebe auszuleben.“

„Verstehe. Und haben Sie eine Ahnung was den Aufenthaltsort des Präsidenten angeht?“

„Kalm. Kylegates Villa.“

Veld hatte den Satz nicht ganz beendet, als Rude, Reno und Elena schon auf den Beinen waren. Doch bevor er draußen war, wandte Reno sich noch einmal um: „Wo sind die anderen Turks? Es wäre beruhigend, sie jetzt hier zu haben.“

„Sie sind über die ganze Welt verstreut, um Informationen zu beschaffen; und um ihr eigenes Leben zu führen. Wir haben uns, wegen Meteor, und jeder für sich, dazu entschlossen, zu helfen. Aber niemand wird sich zu etwas zwingen lassen.“

Diese Antwort stimmte Reno merklich unzufrieden, doch er schwieg, und folgte seinen Kollegen, die bereits vorausgegangen waren.

Auch Tseng machte sich nun auf den Weg. Bevor er ging, stellte er eine letzte Frage: „Was sind Ihre Pläne, Sir?“

„Ich werde nach Junon gehen. Reeve hat jetzt dort das Sagen.“

„Erstaunlich.“

„Nicht nur Reeve. Es sind erstaunliche Zeiten für uns alle. Zum ersten Mal habe ich den Eindruck, nicht zu verstehen, was in den Menschen vor sich geht.“

„Wir Turks sind anders. Alle, die in jener Nacht zusammengekommen sind. Wir sind Ihrer Lehre treu.“

„Mit anderen Worten… ein Haufen Leute, deren Gedanken ich nicht verstehe“, erwiderte Veld, und machte Anstalten, ebenfalls zu gehen. „Und paßt mir auf den Präsidenten auf.“

So hörte er nicht mehr, was Tseng murmelte: „Ich wünschte, Sie würden auf mich achtgeben, wie Sie es früher getan haben, Sir.“

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