ShinRas Geschichte: Kapitel 7

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In der Nähe des Eingangs befand sich ein gesonderter Untersuchungsraum. Kilmister war gerade dabei, Rufus’ Knöchel neu einzugipsen. Der Junge, der mit Rufus das Essen geteilt hatte, bewachte den Eingang, das Gewehr im Anschlag.

„Doktor. Konnten Sie Fortschritte bei der Erforschung der Seuche machen?“

„Selbstverständlich.“

Rufus bemerkte den Blick, den Kilmister dem Jungen zuwarf.

„Was haben Sie vor?“

„Ich bin Arzt. Ich will alle Krankheiten besiegen.“

„Das ist lobenswert. Aber warum mußten Sie mich hierherbringen?“

„Jenova.“

„Was?“, entfuhr es Rufus, der sichtlich überrascht war, diesen Namen zu hören.

„Meine Untersuchung hat ergeben, daß die Erkrankten Zellen in sich tragen, die denen von SOLDAT-Kämpfern ähneln.“

„Erklären Sie mir das“, drängte Rufus, dem nicht entgangen war, wie Kilmister wieder zu dem Jungen herübergestarrt hatte.

„Das werde ich, zu gegebener Zeit“, war die Antwort.

„Dann sagen Sie mir wenigstens das eine: ist es ansteckend?“

„Auch das zu gegebener Zeit.“

Es kann nicht ansteckend sein, dachte Rufus.

*** *** ***

Drei Monate verstrichen. Die Verbände um seinen Körper waren längst verschwunden, nun war der Tag gekommen, auch den Gips zu entfernen. Kilmister reichte Rufus einen Stock.

„Ein Rohr, irgendwo aus dem ShinRa-Gebäde.“

„Wie sieht es in Midgar aus?“

„Die Seuche breitet sich weiter aus. Doch obwohl die Zahl der Infizierten zunimmt, arbeitet ein Großteil der Leute nach wie vor hart am Aufbau der neuen Stadt im Osten Midgars.“

„Wer führt diese Leute?“

„Wer weiß das schon. Es scheint mehrere Interessengruppen zu geben. Doch etwas anderes, Herr Präsident: Ist Ihnen eine Gruppe bekannt, die sich ShinRas Attentäter nennt?“

Rufus schüttelte den Kopf.

„Offenbar haben mehrere Leute, die aus den Firmendepots Material entwendet haben, Drohbriefe erhalten, daß sie dies in Zukunft unterlassen sollten, wenn ihnen ihr Leben lieb wäre. Diese Leute sind jetzt so eingeschüchtert, daß sie sich nicht einmal mehr in die Nähe der Depots wagen.“

Diese verrückten Turks, lachte Rufus innerlich.

„Herr Präsident, ich habe das Thema bislang vermieden, aber ich benötige Geräte, die im Besitz von ShinRa sind. Könnten sie diese Attentäter das wissen lassen?“

„Was benötigte Sie?“, fragte Rufus, der jetzt keinen Hehl aus seinem Mißtrauen machte.

„Dr. Hojos Ausrüstung.“

„Die Sie für Ihre Untersuchungen benötigen, wie ich annehme.“

„Natürlich. Und weiterhin brauche ich…“

„Jenova.“

„Genau. Wo befindet es sich jetzt?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich wollte mich auf die Suche mache, wenn ich hier weg bin…“

Kilmister musterte Rufus, als ob er dessen Wert für seine Pläne herausfinden wollte.

„Wir werden einen anderen Ort finden müssen. Dieser Ort ist ungeeignet für Forschung.“

Forschung…

„Dr. Kilmister. Sind Sie Arzt oder Wissenschaftler?”

Stille.

„Die Behandlung ist abgeschlossen“, kam schließlich die Antwort. Kilmister zückte eine Pistole, die er unter seinem Kittel verborgen hatte, um diese Worte zu betonen.

Von nun an verbrachte Rufus viel Zeit damit, wieder laufen zu lernen. So kurz nach seiner Genesung hatte er dann und wann noch Schmerzen, aber bald schon war er in der Lage, ohne Hilfe das Höhlensystem zu erkunden. Die meisten dieser „Räume“ waren leer. Er erfuhr, daß der Junge, der ihm das Essen gebracht hatte, nun tot war. Drei Männer und zwei Frauen waren noch übrig. Vier von ihnen waren gestorben.

In einem anderen Raum hörte er eine Frau vor Schmerzen aufstöhnen. Es war das Mädchen, mit dem er während der Fahrt zur Höhle gesprochen hatte. Einer der Jungs war bei ihr, tief besorgt hielt er ihre Hand. Als er Rufus bemerkte, sagte er: „Der Doktor sagt, daß die Medizin knapp wird. Er hat deswegen unsere Dosis herabgesetzt. Ich habe ihr meine gegeben, aber es scheint, als hätte die Wirkung nachgelassen.“

Rufus konnte offentsichtlich nichts für sie tun. Moment mal. Rufus verließ den Raum und rief nach Kilmister. Schon erschien die Gestalt in ihrem weißen Kittel, das Gesicht von Gram gezeichnet.

„Ich habe gehört, daß die Medizin knapp wird.“

„Ja. Was noch übrig ist, wird bald verbraucht sein.“

„Also gab es ein Mittel?“

Heißt das, daß er die ganze Zeit ein Heilmittel gegen die Seuche hatte?

„Warten Sie kurz.“ Kilmister verschwand und kam mit der Leiter zurück. „Können Sie hochklettern?“

Rufus packte eine Sprosse, und machte sich an den Aufstieg. Das war seine Fluchtmöglichkeit. Vorsichtig arbeitete er sich die Leiter hoch. Doch als er seinen Kopf über den Rand streckte, hielt ihm Kilmister bereits die Pistole ins Gesicht.

„Nicht weiter. Wir reden hier.“

Kilmisters Gesicht war aschfahl, er schwitzte stark.

„Sie sehen nicht gut aus, Doktor.“

„Ich brauche Medizin.“

„Was für Medizin?“

„Meinen Anteil an der Ration.“

Kilmister hatte seinen Patienten eine verdünnte Variante jenes Aufputschmittels verabreicht, das auch ShinRa-Truppen verwendeten.

„Es ist kein Heilmittel, aber es lindert den Schmerz.“

„Also das ist Ihre sogenannte Therapie.“

„Ich betrüge nicht. Ich mußte doch erst die Ursache der Krankheit ermitteln. Und solange muß ich es irgendwie kontrollieren.“

„Und jetzt sind sie selbst infiziert.“

„Nein“, antwortete Kilmister. Er führte aus, daß er das Aufputschmittel nahm, um die Nächte durcharbeiten zu können.

„Aber dennoch ist es möglich, daß Sie abhängig von dem Zeug werden“, erwiderte Rufus, dem dies ganz gelegen kam. Es schien eine Möglichkeit zu sein, Kontrolle über den Doktor zu erlangen. „Haben Sie Telefon? Einen Stift und ein Blatt Papier vielleicht?“

„Wen wollen Sie kontaktieren?“

„ShinRas Attentäter. Sie kennen den Ort, an dem das Aufputschmittel aufbewahrt wird.“

Kilmister Augen funkelten wütend. Dennoch ließ er höchste Vorsicht walten. Er befahl Rufus, zurück nach unten zu klettern. Die Leiter wurde wieder hochgezogen, und Kilmister verschwand. Bald darauf warf er einen Stift und etwas Papier herab.

Rufus schrieb lediglich eine kurze Notiz für die Turks, in der er um Nachschub von dem Aufputschmittel bat. Nichts weiter. Es war jetzt wichtig, daß er Kilmisters Vertrauen erlangte. Zudem vertraute er den Turks, daß sie ohnehin wußten, was zu tun war.

Kilmister kam jedoch von seiner Reise nicht zurück. Auch keine Spur von den Turks. Schlimmer noch: Die Vorräte gingen ihnen langsam aus. Er hatte Kilmister aufgetragen, sich zum ShinRa-Gebäude zu begeben, und dort nach den Turks zu rufen. Ihnen sollte er die Nachricht geben. Innerhalb von drei Tagen sollte Kilmister mit der Medizin zur Höhle zurückkehren. Die Turks natürlich auf den Fersen des guten Doktors, so hatte Rufus es sich ausgemalt. Jetzt warteten sie bereits seit einer Woche.

Rufus hatte sich an das unterirdische Leben gewöhnt. Oft sah man ihm zum Zeitvertreib auf Erkundungen durch das Höhlensystem. Der Zustand der Frau verschlechterte sich zusehends. Auch der Mann, der auf sie aufpaßte, krümmte sich vor Schmerzen, doch er hielt weiter ihre Hand, als würde er auf ein Wunder hoffen.

„Kilmister kommt bestimmt bald wieder“, tröstete Rufus ihn, obwohl er selbst nicht wußte, warum der Doktor sich verspätete. Warum lüge ich ihn an?

Draußen regnete es seit Tagen ohne Unterlaß, und während einer seiner Wanderungen merkte Rufus, daß Wasser in ihre Höhle eindrang. Nicht durch den Eingang. Das Wasser kam durch die Höhlendecke. Offenbar war das Gestein über ihnen an vielen Stellen durchlöchert, und mit dem heftigen Regen an der Oberfläche schien es, als hätte jemand vergessen den Wasserhahn zuzudrehen. Der Regen hält schon seit Tagen an; wieso dringt es erst jetzt zu uns durch? Das Wasser muß sich irgendwo aufgestaut haben. Wir müssen diesen Ort irgendwie verlassen. Rufus informierte die anderen, und begab sich zum Höhleneingang.

Er schaute verzweifelt nach oben – sein Nacken tat immer noch weh – doch konnte dort niemanden entdecken. Nur das stetige, laute Prasseln des Regens drang an sein Ohr. Rufus sah sich um. Wenn das Wasser erst bis hierhin vorgedrungen war, könnte er vielleicht mit der steigenden Flut bis zum Ausgang schwimmen.

„Ich muß es versuchen.“

Er sagte den anderen Bewohnern der Höhle, sie sollten sich bereithalten. Sie antworteten nicht. Da sie mit dem Aufputschmittel abgefüllt waren, merkten sie nur noch wenig von dem, was um sie herum geschah.

„Fünf Leute, huh…“, murmelte Rufus. Er dachte nach. Die lange Zeit mit dem Gipsbein und den gebrochenen Rippen hatte ihn geschwächt. Die übrigen Patienten aber hatten so viel Gewicht verloren, daß er sogar in seinem Zustand in der Lage sein sollte, sie bis in die Nähe des Eingangs tragen zu können.

Die Flut war jetzt bis zu seinen Knöcheln gestiegen. Rufus benötigte etwas, an dem sich die Anderen festhalten konnten. Weiter drüben trieben einige Betten auf dem Wasser. Er entfernte die Metallteile, die die Betten zusammenhielten. Die hölzernen Seitenwände stieß er in Richtung Eingang; die Bretter flitzten erstaunlich flott über die Wasseroberfläche. Nun kehrte er zu den anderen Patienten zurück.

„Wer noch Kraft hat, soll schwimmen. Falls nicht, haltet euch an den Brettern fest.“

Die Stunden vergingen. Das Wasser stand Rufus jetzt buchstäblich bis zum Hals. Sie alle klammerten sich an die Holzbretter. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Er blickte weiter erwartungsvoll nach oben, in der Hoffnung, Kilmister möge noch rechtzeitig erscheinen. Einen anderen Gedanken konnte er überhaupt nicht mehr fassen. Fest umklammerte er sein Brett, während das Wasser unerbittlich stieg. Bald schon fehlte nur noch ein knapper Meter, um sich über den Rand der Klippe nach oben zu schwingen, heraus aus dieser Höhle. Doch es kam anders. Es strömte kein neues Wasser mehr in die Höhle. Hat der Regen aufgehört, oder fließt das Wasser irgendwo ab? Er biß auf seine Lippe. Wir müssen warten, bis Hilfe eintrifft. Er sah nach den anderen: Es waren außer ihm nur noch zwei Männer übrig, sowie die Frau, die sich damals mit ihm unterhalten hatte. Sie hatte ihre Arme fest um eine Planke geschlungen, und wirkte wie tot. Doch dann wechselte sie ächzend die Position, was Rufus einen erleichterten Seufzer entlockte.

Stunden vergingen, ohne daß der Wasserpegel fiel oder stieg. Rufus merkte, wie er allmählich auskühlte; das Wasser zehrte ihre Körperwärme auf. Wir haben nicht mehr viel Zeit.

„Was?“

Ihm war, als hätte er jemanden rufen hören. Aber es war niemand da, der die Kraft dazu gehabt hätte. Mißtrauisch beobachtete er seine Umgebung. Doch, da bewegte sich etwas in seinen Augenwinkeln. Unterwasser bewegte sich ein schwarzer Schatten auf Rufus zu. War es die schwarze Flüssigkeit, die aus den Patienten kam?

Der Schatten bewegte sich, als wäre er lebendig. Rufus bekam es mit der Angst zu tun; er wirbelte Wasser auf, um es zu vertreiben. Doch die Wellen, die er schlug konnten es nicht aufhalten. Unaufhörlich näherte es sich ihm. Eine klebrige Masse färbte seinen weißen Anzug pechschwarz. Tatsächlich hatte man auch vorher nicht mehr davon sprechen können, daß der Anzug weiß war – vielmehr starrte er vor Dreck. Doch er hatte ihn anbehalten, denn er würde ihn auf der Flucht brauchen können. Nun betrachtete er seine Ärmel, von denen es schwarz triefte. Das ist das Ende.

Die schwarze Flüssigkeit kletterte über Rufus’ Nacken auf sein Gesicht zu. Er wußte instinktiv, daß es in seinen Mund wollte, den er darum geschlossen hielt. Dann hielt es auf seine Nasenlöcher zu, die er mit einer Hand abdeckte. Lieber würde er ersticken, als die Flüssigkeit in seinen Körper zu lassen. Jedoch wählte die Flüssigkeit einfach den Weg über seine Ohren. Er schrie auf, bevor er das Bewußtsein verlor.

*** *** ***

„Herr Präsident!“

Dieser Ruf weckte Rufus.

„Es tut mir leid, daß ich so spät komme. Diese Flut, wirklich eine dumme Sache“, sprach Kilmister, während er von oben die Leiter herabließ. Rufus konnte kaum fassen, daß er noch lebte. Bevor er die Leiter hochstieg, sah er sich nach seinen Leidensgenossen um. Nur ein Mann und die Frau hatten überlebt.

„Hey, alles Ordnung bei euch?“

Der Mann schaute auf.

„Wir sind gerettet!“

Der Mann warf ihm erst einen leeren Blick zu, dann machte sich Begreifen breit. Ängstlich rief er den Namen seiner Begleiterin, die leicht mit dem Kopf nickte. Rufus bot ihr eine Hand, als sie auf die Leiter zupaddelte. Doch gerade, als sie die erste Sprosse ergreifen wollte, knallte ein Schuß. Sie wurde zurückgeschleudert und versank im Wasser.

„Pamela!“

Es war ihr Begleiter, der diesen Schreckensschrei ausstieß. Panisch warf er sich in die Fluten, um ihr hinterher zu tauchen. Rufus packte den Mann, der nicht mehr in der Lage war zu schwimmen, am Arm, dabei er sich mit der freien Hand weiter an die Planke klammerte.

„Pamela…“

Er schluchzte, aber hatte keine Kraft mehr, ihren Namen zu rufen. Rufus brachte ihn zurück zur Leiter.

„Hoch da.“

„Aber…“

„Keine Widerrede.“

Noch einmal blickte sich der Mann nach der Stelle um, wo Pamela untergegangen war. Dann warf er Kilmister einen haßerfüllten Blick zu. Rufus hatte keine Ahnung gehabt, daß er ihren Namen kannte.

„Ich konnte nichts mehr für sie tun. Ich habe sie von ihrem Leid erlöst. Pamela wäre mir deswegen nicht böse gewesen.“

In der Tat, jetzt kann man nichts mehr für sie tun. Aber was wird er tun? Entschlossen kletterte der Mann die Leiter hinauf.

„Wie heißt du?“, fragte Rufus.

„Judd.“

„Judd, das ist jetzt nicht die richtige Zeit. Überlaß Kilmister mir.“

Judd kletterte unbeirrt weiter, ohne zu antworten. Rufus folgte ihm, so schnell er konnte. Doch als er schon beinahe die lang entbehrte Oberfläche erreicht hatte, ließ ihn eine Woge des Schmerzes erzittern. Etwas kam aus seinem Mund. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. Daran klebte jetzt die gleiche Flüssigkeit, die auch aus Pamela und Judd kam.

„Jesses, jetzt brauchen sie aber auch die Aufputschmittel, Herr Präsident“, tönte Kilmister halb belustigt.

„Uff…“

Kilmister schrie zornig auf. Seine Waffe fiel an Rufus vorbei hinunter ins Wasser. Den Schmerz ignorierend, hastete Rufus hinauf. Judd hatte Kilmister von hinten gepackt und erwürgte den Arzt, der verzweifelt nach Luft schnappte. Judd, du Idiot. Ich sagte, daß ist ist jetzt nicht die richtige Zeit!

„Argh!“

Nur diesmal war es Judd, der geschrien hatte.

Endlich war Rufus oben, sein Körper zitterte, als er von der Leiter auf festen Boden trat.

„Du bist spät dran!“

„Oh, sorry“, grinste ihn Reno an.

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