Mutten Kylegate traktierte Rufus mit drei harten Schlägen.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich selbst nicht weiß.“
„Sag mir den neuen Code!“
„Jemand muß ihn geändert haben. Ich kennen nur den Notfall-…“
Mutten schlug zu, ohne die Antwort abzuwarten. Seine Hiebe waren wie Hammerschläge.
„Sie müssen zur Armee gehören…“
„Wir sind uns viele Male begegnet. Aber natürlich hast du mich nie beachtet, für dich bin ich immer nur einer deiner Lakaien gewesen.“
„… tut mir leid“, meinte Rufus, während ihm folgendes durch den Kopf ging: Wenn dies sein Haus ist, muß er einer wohlhabenden oder berühmten Familie angehören. In diesem Fall wäre er deutlich älter, als er aussieht. Es gab irgendwann diese Regel, die besagte, daß bestimmte Leute nicht mehr in die Armee aufgenommen werden sollten. Wurde allerdings oft ignoriert. In diesem Fall muß es Probleme mit ihm gegeben haben, sonst hätte er längst einen höheren Dienstgrad. Wobei: Dieser Raum hier ist Antwort genug.
„Was ist mit deinen Schoßhündchen?“
Wer Leute als Schoßhündchen bezeichnet, hat wirklich einen an der Waffel.
„Wo sind sie?“
„Meine Leute waren nicht dabei, als ich entführt wurde. Sie haben sicher keine Ahnung, wo ich mich jetzt befinde.“
„Verstehe“, gab sich Mutten überzeugt. „Was willst du?“
Es war eines der Hausmädchen. Sie antwortete: „Wir haben einen Gast.“
„Ein Gast? Wer könnte das… egal. Ich komme sofort.“
Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal zu Rufus um.
„Heute Morgen haben wir mit dem Aufbau der neuen Stadt begonnen. Ich habe zahlreiche freiwillige Helfer gefunden. Du hättest die Massen sehen sollen, die ich östlich von Midgar versammelt habe. Ich freue mich darauf, Herr Präsident. Denn sie bauen meine Stadt. Ich würde sie dir ja gerne zeigen, aber du läßt mir keine andere Wahl, als dich hierzulassen.“
Er ging endlich, nachdem er Rufus noch verraten hatte, daß die neue Stadt Edge heißen würde. Kurz darauf hörte Rufus eine zornige Männerstimme. Eine vertraute Stimme. Schüsse fielen, das Hausmädchen kreischte. Dann roch er Verbranntes, derweil zahlreiche Leute lauthals schreiend die Flucht ergriffen.
Rufus wollte aufstehen, den Rollstuhl verlassen, auf den er angewiesen war, doch sein Körper gehorchte ihm nicht, und so plumpste er auf den Boden. Der Schmerz war beinah unerträglich, doch er biß die Zähne zusammen. So ruhig als möglich machte er sich ein Bild von der Situation. Ich habe die ganze Zeit geahnt, daß es sich in diesem Raum entscheiden würde. Draußen war eine barsche Stimme zu vernehmen.
„Präsident, wo bist du?“
Rufus vermutete, es war der Mann, der ihn mit dem Gewehr bedroht hatte. Er wußte zwar nicht, was oben vor sich ging, doch höchstwahrscheinlich waren es interne Streitigkeiten. Das hieß also, daß keine Hilfe unterwegs war. Also, was tun? Ich krieche unter das Bett, und verstecke mich dort.
Seine gebrochenen Knochen machten sich wieder bemerkbar. Der Schmerz war schlimm. Rufus rammte die Zähne in seine Unterlippe, um den Klagelaut zu unterdrücken. Wie weiter? Er wird die Kette entdecken und sofort sehen, wo ich mich versteckt habe. Er rollte auf den Rücken, nahm das Bettgestell in Augenschein. Er sah weitere Metallhaken, von denen mehrere Peitschen herabhingen. Es ekelte ihn schon der Gedanke daran, wozu sie benutzt wurden. Trotzdem packte Rufus eine.
„Präsident!“
Ein Mann trat brutal die Tür auf und kam herein. Von seiner Position aus konnte Rufus nur die Stiefel sehen. Während er sich dem Bett näherte, trat er gegen die Kette, die an Rufus’ Bein befestigt war.
„Hey, er versteckt sich unterm Bett.“
Los komm, näher. Wie Rufus erwartet hatte, kam der Mann auf das Bett zu. Komm her, sieh unterm Bett nach. Laß mich dein Gesicht sehen.
Doch es war der metallene Lauf eines Gewehrs, der nun auf ihn zukam. Sofort packte er die Waffe mit seiner Linken und stieß sie gegen das Bettgestell.
„Was soll das!“
Ein Schuß knallte. Schmerz durchströmte Rufus’ linke Hand. Er ließ von der Waffe und krabbelte hastig unter dem Bett hervor. Seine linke Seite war wie betäubt. Indem er sich auf die andere Seite wälzte, konnte er dem Anderen einen saftigen Tritt mit seinem Gipsbein verpassen. Der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus und taumelte ein paar Schritte zurück. So schnell es ging richtete Rufus sich auf, wobei er seinen Gegner mit der Peitsche traktierte. Zu seinem Glück gelang es ihm, dem Mann das Gewehr aus der Hand zu schlagen. Rasch ergriff Rufus die Waffe und richtete sie auf den Kontrahenten.
„Ich gewinne.“
Dann war der Raum voller Rauch.
„Dummkopf! Weg jetzt! Feuer! Die Flammen werden dich verschlingen. Das Gewehr hilft dir auch nicht mehr.“
Rufus hatte kaum eine Wahl, als ihn am Leben zu lassen. Er suchte einen Grund, daß der andere ihm zuhörte.
„Haben Sie Mutten getötet?“
„Ja, habe ich. Wir sind zusammen aufgewachsen, verdammt noch mal. Und er behandelt mich wie einen Haufen Scheiße!“
„Alles klar. Das war sein Untergang.“
„Nur damit du das richtig siehst. Ich bin jetzt keiner von deinen Männern. Ich hab nicht vergessen, wie du mich damals in dem Haus bloßgestellt hast.“
Das muß Karma sein. Wer hätte geglaubt, daß die Dinge diese Wendung nehmen würden. Da ertönte ein weiterer Schuß. Der Mann ging zu Boden. Zuerst glaubte Rufus, er habe aus Versehen abgedrückt, dann bemerkte er, daß noch jemand den Raum betreten hatte.
*** *** ***
„Chef!“
Die Flüchtlinge, die in Kylegates Villa Unterschlupf gefunden hatten, suchten eilig das Weite. Die vier Turks kamen noch rechtzeitig, um das Anwesen in Flammen aufgehen zu sein. Vor ihren Augen brach das stolze Haus zusammen.
„Chef!“
Wie wild hielten die Turks Ausschau nach Rufus, doch er war nicht unter den Flüchtlingen. Schließlich brachten sie in Erfahrung, was sie wissen wollten.
„Jemand hat gesehen, wie ein Mann in einem weißen Anzug, mit Verbänden um den Kopf und einem Gipsbein, von einem anderen fortgebracht wurde“, berichtete eine betrübte Elena.
„Kein Zweifel, das ist er“, erwiderte Tseng.
„Wer mag der andere Mann nur sein?“, fragte Reno.
„Ich bin sicher, wir kennen ihn“, antwortete Rude.
„Könnte der Soldat gewesen sein”, bemerkte Reno. Seine Augen wurden schmal wie Schlitze als er fortfuhr: „Erledigen wir das wie Turks? Die hassen ShinRa sowieso.“
„Erlaubnis erteilt. Aber tut den Freiwilligen nichts!“
„Wieso?“
„Der Plan, die Stadt wiederaufzubauen, stammt sicherlich vom Präsidenten.“
*** *** ***
Nur Minuten vorher hatte ein Mann, auf den die Beschreibung paßte, eine Waffe auf Rufus gerichtet.
„Wie geht es Ihnen, Herr Rufus ShinRa?“
Es war der Arzt, der nach Rufus gesehen hatte.
„Nicht so gut.“
„Dann werfen Sie die Waffe weg. Sie macht die Dinge nur schlimmer für Sie.“
Rufus behagten diese Worte nicht.
„Doktor, werfen Sie Ihre Waffe weg, dann tue ich dasselbe.“
Der Doktor grinste frech, als er das Gewehr ruhig auf Rufus’ Gesicht richtete. Es gab keinen Zweifel, er würde schießen. Rufus kam ihm zuvor. Er zielte auf das Herz des Doktors und drückte ab. Ein klägliches Klicken ertönte statt eines Schusses.
„Herr ShinRa. Sie wissen nicht, wem diese Waffe gehört hat. Dieser Mann haßte Mutten. Er hat sein Leben lang die Drecksarbeit erledigt, während Mutten ein schönes Leben führte. Er hat alle Kugeln benutzt, um seinen Haß loszuwerden – alle, bis auf eine. Und diese eine wurde in diesem Raum abgefeuert.“
Rufus seufzte. Er hat keinen Moment über die Konsequenzen nachgedacht.
„Ich bin Kilmister. Ein ShinRa-Angestellter seit meiner Jugend. Ich stand nur eine Stufe unter Dr. Hojos Assistenten.“
Einer von Hojos Mitarbeitern. Verdammt, das ist nicht gut.
„Jetzt werfen Sie schon die Waffe weg.“
Rufus tat es, er warf das Gewehr zu Kilmisters Füßen. Der zog einen Flakon aus einer Tasche hervor und reichte ihn Rufus.
„Riechen sie daran. Ich will, daß Sie eine Zeit lang bewußtlos sind. Wenn Sie es nicht tun, schieße ich. Nein, töten werde ich Sie nicht, ich brauche Sie noch – aber ich kann Sie leiden lassen.“ Rufus öffnete den Flakon. Den Geruch erkannte er sofort. Er hatte ihn damals bei Mutten wahrgenommen, in dem Haus in Kalm, kurz bevor er weggetreten war.
*** *** ***
Rufus erwachte auf der Ladefläche eines Trucks. Er war nicht allein: neun Gestalten hockten um ihn herum. Fünf junge Männer, und vier Frauen, etwa im selben Alter. Sie alle waren bandagiert. Darüberhinaus teilten sie eine weitere Sache: Erst hatte er es für Dreck gehalten, doch dann bemerkte er, daß eine schwarze Flüssigkeit aus ihren Körpern sickerte. Sogar ihre Haare waren davon verklebt. Dem Stöhnen und Ächzen nach zu urteilen, litten sie. Die Frau neben Rufus verlor die Balance und landete mitten auf ihm.
„Es tut mir leid.“
„Macht doch nichts.“
„Du, du bist nicht krank“, sagte sie besorgt. „Es täte mir sehr leid, wenn ich dich jetzt angesteckt habe.“
Rufus’ Lächeln war eiskalt, als er an die Strapazen dachte, die er durchmachen mußte. Er hatte sich sämtliche Knochen gebrochen, als er auf einer Rutschbahn durch das ShinRa-Gebäude gerast war. Dann hatte man ihn eingesperrt und gefoltert, bevor er schließlich mit einer Waffe bedroht worden war. Und jetzt sah er sich einer tödlichen Krankheit ausgesetzt. Er wollte nicht in diese Sache hineingezogen werden, aber in seiner Situation konnte er nichts dagegen tun.
Es war eine anstrengende Fahrt. Die Piste war holprig, und Kilmister raste wie ein Irrer. Gleichwohl überlegt Rufus, ob er einfach abspringen sollte. Dann erinnerte er sich, daß Kilmister seine Hilfe wollte. Er wird mich nicht umbringen. Wo auch immer er mich hinbringt, es wird allemal besser sein, als hier in der Wildnis ausgesetzt zu sein.
*** *** ***
Die Reise endete vor einer Höhle. Sie lag in einer felsigen Gegend, nahe der Küste. Da er den größten Teil der Fahrt über bewußtlos gewesen war, hatte Rufus keine Ahnung, wie weit er von Kalm weg war. Er versuchte, sich an der Landschaft zu orientieren. Er kam zu dem Schluß, daß es höchstens drei bis vier Autostunden wären. Trotz seiner Verletzungen war er überzeugt, diese Strecke zu Fuß bewältigen zu können.
Kilmister hatte wieder sein Gewehr in der Hand, als er Anweisungen gab. Er hätte sich die Waffe sparen können, keiner hatte noch die Kraft, sich gegen ihn zu wehren. Die Frau, mit der er gesprochen hatte, half Rufus beim Absteigen. Da er seinen Stock verloren hatte, stütze er sich auf ihre Schulter, bis sie die Höhle erreicht hatten.
„Ich hoffe, daß es uns beiden bald besser geht“, sagte die Frau. Das hoffe ich allerdings auch.
Direkt hinter dem Eingang war ein tiefes, steilabfallendes Erdloch. Dort mußten sie eine Leiter herabklettern. Mit größter Mühe meisterte Rufus die fünf Meter. Sein Nacken tat höllisch weh, aber er warf einen Blick nach oben. Wenn er die Leiter wegnimmt, ist es unmöglich, dort wieder hochzukommen. Wie erwartet, zog Kilmister die Leiter nach oben.
„Weiter hinten gibt es mehrere Gänge. Jeder Gang führt in einen abgeschlossenen Hohlraum. Sucht euch ein nettes Plätzchen. Das ist jetzt euer Zuhause.“
„Und unsere Behandlung?“, wollte einer wissen.
„Kommt hierher, wenn ich euch rufe. Euch geschieht nichts“, beschwichtigte Kilmister, bevor er verschwand.
Zu ihrer Überraschung hatte jemand Betten aufgestellt und Schlafanzüge bereitgelegt. Jeder nahm sein Bündel und suchte sich „ein nettes Plätzchen“, wo sie ihr Bett beanspruchten.
Rufus wählte die am weitesten innenliegende Höhle. Das war seine Angewohnheit. Bald kam einer der anderen – ein Junge, dessen Beschwerden sich gelindert hatten. Er brachte etwas Brot und Käse mit, das sie teilten.
„Wurdet ihr auch mit einer Waffe gezwungen, mitzukommen?“, fragte Rufus ihn.
„Nein. Wir sind seine Patienten gewesen, seit wir Kinder waren. Er ist der Arzt bei uns im Ort. Als er sagte, er könnte uns heilen, haben wir ihm natürlich geglaubt. Mit ein paar Anderen hat er dann dieses Spital hier aufgebaut.“
„Spital?“
„Ja. Wir müssen unter Quarantäne gestellt werden. Er meinte auch, selbst wenn wir in Kalm blieben, würde man uns früher oder später aus der Stadt jagen.“ Das schien ihn zu bekümmern. Dann fuhr er fort: „Er meinte, er würde die Waffe nur brauchen, damit du nicht abhaust.“
„Ich bin auch ein Patient von ihm, aber… scheint so, als würde er mir nicht trauen. Übrigens, weißt du, wo wir hier sind?“
„Er hat uns verboten, dir das zu sagen.“
Wird wohl doch kein so angenehmer Aufenthalt.