Ihr Ziel war ein kleines Dorf, dessen Bewohner ihr Einkommen mit dem Anbau von Kartoffeln bestritten. Die schweren Kartoffelsäcke wurden einer nach dem anderen in den Laderaum des Trucks getragen, wo nur noch die Hälfte der ursprünglichen Kohle seit ihrer Abfahrt übrig war. Während er beim Einladen half, dachte Barret bei sich: „Wenn sie diese Kartoffeln in der Stadt verkaufen, wie viel kriegen sie wohl dafür?“ Keine Frage, die Löhne der Trucker waren von den Verkaufspreisen in den Städten abhängig. Die Lebensmittelpreise waren ein großes Problem in Midgar. „Viel zu hoch, selbst für eine Krisenzeit wie diese“. Aber als er all diesen Leuten bei ihrer harten Arbeit zusah, verstand er, daß es nicht anders ging. Als die Versorgung durch Mako aufgehört hatte, waren auch die Mako-gestützten Feldmaschinen nutzlos geworden. Kartoffeln ohne maschinelle Hilfe anzubauen, muße mehr als schwierig sein.
Barret verlor sich schnell in seinen Gedanken. „Wenn sie keine Maschinen benutzen können, bleibt den Leuten nichts andere übrig, als ihre Körper einzusetzen. Und, wir haben jede Menge Leute. In Midgar gibt es so viele Arbeitslose, die sich für ein wenig Brot abrackern müssen, nicht? Klar, sie könnten einfach alles verschlingen, was da so wächst, aber dann würden wohl bald die Nahrungsmittel zur Neige gehen. Yeah, sie sollten Saatgut verteilen oder einige Pflanzen in den Boden setzen und sich drum kümmern. Und ja, sie müssen auch Viehzucht betreiben…“
„Ah, Bingo“, dachte er, „wenn wir alle mit anpacken würden, könnten wir in kürzester Zeit ohne Not leben – zumindest was das Essen angeht. Wenn wir Maschinen brauchen, benutzen wir einfach Kohle. Wie im Truck. Wir müssen ganz einfach alles wieder so einrichten, wie es in der Zeit vor Mako war. Klar wird das schwer. Alles wird nur ganz langsam gehen. Für jemanden, der so ungeduldig ist wie ich, wird das unerträglich. Aber so muß es sein. Und so wird es kommen.“
Barret lächelte vor sich hin, zufrieden damit, so schnell einen gute Gedanken gefaßt zu haben. Nun grübelte er darüber nach, was er wohl machen könnte. Als erstes würde er eine Hacke an seinem rechten Arm befestigen und die Felder pflügen. Er würde alles aus seinem mächtigen Körper herausholen und die Arbeit von fünf Männern erledigen. „Heh, warte – neue Zeiten schreien nach neuen Anführern. Könnte das nicht meine Rolle sein?“ Barrets Gedanken überschlugen sich. Er stellte sich vor, wie es sein würde, Befehle zu erteilen und seine Freunde sich anstrengen würden, alles zusammenzubekommen.
„Na los, Barret!“, würde Jessie sagen, während sie mit Wedge und Biggs auf den Fersen aus dem Raum stürmte. Aber dann kamen ihm Erinnerungen aus seiner Zeit als Anführer von Avalanche und für einen Moment wandelte sich seine Vision von einer glorreichen Zukunft zu tiefem Bedauern.
„Grrrrraaaaaahhh!“, schrie Barret.
Verdammt, schon wieder, dachte er und blickte sich um. Aber niemand beachtete ihn. Die Menge war vor einem Haus versammelt, wo Sasakis Neffe gerade mit einem nicht mehr ganz jungen Mann aus dem Dorf sprach. Barret ging rüber, um mitzubekommen, worum es ging.
„Es ist kein Problem für mich, deine Tochter nach Midgar zu bringen. Aber sie sieht so schrecklich schwach aus… Ich weiß nicht, ob wir es rechtzeitig schaffen.“
„Aber…“ Auf dem Rücken des Mannes befand sich ein junges Mädchen, das leblos zusammengesunken war. Sie war eine Schönheit, aber von ihrem Arm tröpfelte eine schwarze Flüssigkeit – das abscheuliche Geostigma. Sie war in einem schrecklichen Zustand. Barret war in eine dieser Situationen geraten, die er hasste: Genau jetzt hast du eine Katastrophe vor deiner Nase und es gibt verdammt nochmal nichts, was du unternehmen könntest.
Barret wußte, daß es keine Behandlungsmöglichkeit gab, selbst wenn sie das Mädchen nach Midgar brachten. Vielleicht sollte er ihnen das mitteilen. Solltest du nicht deine letzten Tage in Ruhe hier im Dorf verbringen? Aber damit würde er Vater und Kind nur die Hoffnung stehlen. Is‘ das alles, was ich tun kann? Die Schnauze halten und den Dingen ihren Lauf lassen? Barret hätte am liebsten seine Verbitterung rausgeschrien.
„“Wär‘ es nich‘ bloß Zeitverschwendung nach Midgar zu fahren?“, fragte jemand. Barret sah sich um und erkannte das mißmutige Gesicht des Heizers.
„Wahrscheinlich“, gab Barret zur Antwort.
„Dann sag ich’s denen besser“, meinte der Heizer und marschierte schnurstracks auf Vater und Tochter zu.
„Bleib stehen“, rief Barret ihm nach.
Aber er hörte nicht. Barret beeilte sich, ihn einzuholen, bevor er mit seinen Worten dem Mann und seiner Tochter schaden konnte. Seufzend drehte sich der Heizer um und sagte: „Du denkst, wir sollten sie ruhig nach Midgar gehen lassen. Solange es sie glücklich macht, ist es okay oder was? Selbst wenn es keinen Zweck hat?“
„Yeah.“
„Naja, alles schön und gut, wenn wir nur ein Luftschiff hätten. Aber das einzige was wir haben ist ein Truck. Auf der Ladefläche wird es sehr heiß. Die Überfahrt ist beschwerlich. Du weißt das. Was willst du machen, wenn die Hitze sie noch schneller umbringt, als die Krankheit“
„Aber trotzdem, komm schon…“
„Keine Bange! Ich bin schließlich derjenige, der es ihnen sagt. Vielleicht raube ich ihrem alten Herrn die Hoffnung. Aber das Mädchen sollte Zuhause sein, wenn das Ende kommt.“
Barret war unsicher, wer von ihnen Recht hatte. Er mußte nachdenken. In seinem Kopf drehte sich alles. Wieder wollte er losbrüllen, aber er verkniff es sich.
Nach einer Weile kam der Heizer zurück. Er war still geworden.
„Sie hat gerade ihr Leben ausgehaucht.“
„Was!?“
„Willst… Willste wissen, was ihre letzen Worte war’n?“
„Nein“, dachte er, aber der Heizer fuhr unerbittlich fort.
„,Bitte, bringt mich nach Midgar.'“
Der Heizer ballte die Faust. Er wußte, er hatte Unrecht gehabt.
„Rrrrrraaaaaahhhhhh!“ schrie Barret. „Niemand hat Unrecht!“ Er gab dem Zorn nach, streckte seinen rechten Arm hoch in die Luft und feuerte.
Das ratta-tatta hallte noch lange durch das stille Dorf.
*** *** ***
Barret blieb noch bis zur Beerdigung des Mädchens in dem Dorf. Ihren verhärmten Vater fragte er, ob er etwas für ihn tun könne.
„Hätte wir nur ein Luftschiff gehabt“, murmelte der Mann. „Ich war früher mal Besatzungsmitglied auf der Gelnika. Wenn die doch bloß immer noch fliegen würde, vielleicht wäre mein kleines Mädchen dann nicht gestorben. Es ist doch nur ein Katzensprung nach Midgar.“
„Hör mir zu.“ Irgendetwas mußte er sagen. „Ich weiß wie du dich fühlst, aber man kann das Stigma nicht heilen, nichtmal in Midgar.“
Hätten wir nur dies, hätten wir nur jenes tun können. Wenn man einmal in dieser Spirale aus „Was wäre wenn…“-Gedanken gefangen war, erschien die Zukunft unerträglich. Barret hatte damit selbst Erfahrung gemacht. Aber über das Vergangene zu klagen – war noch schlimmer. Während Barret noch nach Worten suchte, fing der Mann von sich aus an zu sprechen.
„Es muss nicht Midgar sein. Egal wo. Sobald wir hören, daß man an einem Ort das Stigma heilen kann, könnten wir mit den Kranken in der Luft sein. Hätten wir ein Luftschiff, wären wir jederzeit bereit.“
„Bereit?“
„Meine Tochter war nicht die einzige, die Geostima hat.“
Obwohl er gerade erst sein Kind verloren hatte, konzentrierte sich der Vater jetzt auf die Zukunft.
*** *** ***
Die Zukunft, die Barret eben noch entworfen hatte, während er die Kartoffeln auf den Truck lud, hatte sich bereits in Luft aufgelöst. Warum können wir nicht einfach ein paar von den Luftschiffen benutzen und andere wichtige Maschinen auch. Zur Hölle, in Midgar benutzen sie alle möglichen Wagen und Maschinen. Warum nicht auch ein Luftschiff? Solange wir das Mako nicht verschwendeten, wäre es doch kein Problem. Die Zeiten haben sich geändert und ich werde dasselbe machen.
Nicht weit von Rocket Town erstreckte sich in östlicher Richtung eine Wüstenregion, wo kaum Gras wuchs. Dort befand sich ein Bohrturm, gut 50 Meter hoch, und in unmittelbarer Nähe eine alte, kleine Raffinerie.
Mehrere Männer und Frauen standen um den verwitterten Bohrturm herum. Eine von ihnen war Shera, die in einen weißen Laborkittel gekleidet war.
Der Mechaniker neben ihr schüttelte den Kopf. „Im Vergleich zu letztem Monat war es 70 Prozent weniger. Schlechte Nachrichten sind das. Und wie sieht’s bei euch aus?“
„Wir kommen voran. Ich kann nicht behaupten, daß es so gut wie Mako ist, aber wir haben bei der Raffination einige Fortschritte gemacht. „
„Wußte doch, daß ihr das gebacken bekommt. Jetzt brauchen wir nur noch das Zeug für die Raffination, was?“ Der Mechaniker richtete seinen Blick plötzlich auf den Boden. Shera konnte nicht anders, als es ihm gleichzutun. Sie dachte an das rotierende Bohrgestänge, welches surrend alles Öl hervorbrachte, das sich noch unter der Erde befand.
„Nur noch ein wenig mehr.“ Shera faltete ihre Hände wie zum Gebet, aber der Flecken auf der Rückseite ihrer linken Hand war kein Öl. Es war das Stigma.