Die Tage im Wald endeten schnell. Pazu und Rin, die soweit herangewachsen waren, dass sie Schulter an Schulter mit Nanaki stehen konnten, hatten sich einen Platz gesucht, an dem sie zusammen bleiben konnten. Ohne besonderen Grund haben sich die Bären eines Nachts weg von Nanaki schlafen gelegt.
»Irgendwas war zu Ende.«, dachte Nanaki.
Er war traurig, aber er sah das als Zeichen fürs Erwachsen werden. Am nächsten Tag waren die Bären nirgendwo zu sehen, als Nanaki aufwachte. Er vermutete, sie waren losgezogen um alleine nach Essen zu Jagen, genauso wie sie entschieden, nicht mehr bei ihm zu schlafen. In dem Moment hörte er Gewehrschüsse. Das Brüllen von Nibel-Bären folgte.
»Das war Pazu.«
Nanaki, der den Wald nun gut kannte, rannte in die Richtung, wo Pazu war. Nach kurzer Zeit sah er eine sehr bekannte Situation.
An diesem Tag saß ein Junge zurückgefallen und ängstlich da. Ein Nibel-Bär lungerte in der Nähe. Es war Pazu.
Er hat sich für das nahegelegene Dickicht interessiert. Es sah so aus, als wartete er auf Rin. Pazu stellte sich auf die Hinterbeine, erhob seine Pfoten in die Luft als würde er beten, und brüllte. Rins Stimme antwortete. Der Junge suchte ängstlich einen Ausweg. Als er jedoch Nanaki sah, glühten seine Augen voller Hoffnung.
»Red! Ich bin’s! Erinnerst du dich? Du hast mich hier vor langer Zeit gerettet.«
Damals konnte Nanaki nicht einfach nur zusehen. Aber dieses Mal wusste er was er sagen sollte.
»Dies ist der Wald. Du musst seine Regeln befolgen.«
Als er Nanakis Stimme hörte, war er hocherfreut. Er war wohl froh, zu hören, dass Nanaki wirklich sprechen konnte.
»Er hat Mut.«, dachte Nanaki.
»Ich verstehe, Red.«, sagte der Junge, während er sich schnell aufrichtete und zu seinem Gewehr rannte, in dessen Nähe Pazu nicht mehr zu sein schien.
»Ich bin doch nicht hergekommen, um dich anzuspornen.«, dachte Nanaki.
Der Junge griff unerwartet nach seinem Gewehr. Gerade als Nanaki dachte, Pazu würde nun erschossen werden, tauchte Rin auf. Mit einem einzigen Stoß seiner Vorderpfoten wurde der Junge weggeschlagen. Er lag schlaff und bewegungslos da. Nanaki schaute sonst nie zu, aber er sagte sich, dass der Junge nach dem Gesetz des Waldes gekämpft und einfach verloren hatte.
Pazu und Rin fingen an, den Jungen zu umkreisen. Kurz darauf stellten sie sich wieder auf ihre Hinterbeine und brüllten Richtung Himmel.
»Das ist genug.« Nanaki sprang aus dem Dickicht und stellte sich schützend vor den Jungen.
Die beiden Nibel-Bären schwangen ihre Klauen herab in Richtung des Jungen, schnitten aber letztendlich in Nanakis Rücken.
»Geee!« »Geee!« Pazu und Rin machten dasselbe klägliche Geräusch wie schon beim ersten Treffen mit Nanaki und zogen ihre Pfoten zurück.
»Keine Sorge. Geht.«
Er brachte die Nibel-Bären dazu, sich umzudrehen und im Wald zu verschwinden.
»Ugh…«, konnte man den Jungen unter Nanaki stöhnen hören.
»Hey, wo zum Teufel ist der Junge hin? Er sollte nicht einfach alleine losziehen, wo er doch noch so unerfahren ist.«
»Das muss die Stimme des Jägers sein.«, dachte Nanaki. Er verließ die Stelle und versteckte sich im Dickicht.
»Ein Nibel-Bär hat ihm das angetan oder?«
Es war eine junge Frau, gekleidet in Turk-Uniform. Elena holte eine kleine Flasche aus ihrem Anzug – wahrscheinlich ein Heiltrank – und behandelte den Jungen.
»Was geht hier vor?«, dachte Nanaki. »Heißt das, er ist im Shinra-Konzern immer noch aktiv?«
Nanaki bereute, dass er sich nicht mehr um die Informationsbeschaffung der Menschheit gekümmert hatte. Elena sah zu, wie der Jäger den Jungen auf seinem Rücken aus dem Wald trug bevor man hören konnte, wie sie jemanden über das Handy kontaktierte.
»Ich hab einen gefunden. Morgen werde ich es wieder versuchen.«
Als Nanaki zum steinernen Zuhause im Wald zurückkehrte, sah er, wie Pazu und Rin dort im Kreis liefen. Doch als sie Nanaki sahen, versteckten sie sich im Dickicht.
»Ich bin nicht sauer.«, sagte Nanaki und legte sich nieder.
Er war nicht sauer, aber seine Wunde schmerzte. Er wollte sich erst einmal ausruhen und sich aufs Genesen konzentrieren. Morgen würde Shinra wieder im Wald sein. Scheinbar waren die Nibel-Bären ihr Ziel. Morgen sollte ein unruhiger Tag werden.
Nanaki konnte spüren, wie Pazu und Rin näher kamen, blieb aber mit geschlossenen Augen ruhig. Bald schon konnte er spüren, wie die beiden Brüder seine Wunden leckten.
»Danke, Pazu und Rin.«
Mitten in der Nacht wachte er auf. Der Schmerz seiner Wunde war weniger geworden. Mit den Heilungsfähigkeiten eines Tieres, stand Nanaki auf. Als er sich umschaute, sah er kein Zeichen der zwei Brüder. Normalerweise schliefen sie irgendwo in seiner Sichtweite. Mit einem seltsamen Gefühl suchte er im Dickicht, konnte sie aber nirgendwo aufspüren. Es war ungewöhnlich, dass die nicht nachtaktiven Nibel-Bären in der Nacht unterwegs waren. Nanaki bekam Panik und breitete seine Suche im ganzen Wald aus.
Ihm war so, als hörte er Gewehrschüsse von weit weg. Irgendwo außerhalb des Waldes. Nanaki zitterte am ganzen Körper. Es war lang her, dass Gilligan erschienen war.
Er kauerte nieder, angsterfüllt und zitternd. Es war so lange her, dass er vergessen hatte, damit umzugehen.
»Was muss ich noch mal machen? Stimmt. Pazu und Rin. Die beiden Brüder stoppten es.« Aber keiner von ihnen war in der Nähe. Nanaki biss die Zähne zusammen, stand auf und lief aus dem Wald.
Nanaki ertrug das Zittern mit einem starren Blick auf den Boden beim Laufen. Er wusste, dass er außerhalb des Waldes war, da sich die Luft veränderte. Er schaute hoch. Eine geneigte Grasebene war vor ihm. Das Gras war zertrampelt, wo die Jäger entlang gegangen waren. Als er den Pfad mit den Augen verfolgte, konnte er einige Lichter in der Ferne erkennen. Es war ein kleines Dorf. Eines der Lichter, das größte von allen, schwankte mit knisterndem Geräusch.
»Das muss Feuer sein.«, dachte Nanaki. »Wird es zum Kochen benutzt?«
Er rechnete mit allem und versuchte Gilligan aus seinen Gedanken scheuchen. Aber es hatte keinen Effekt. Nanaki ging zielstrebig weiter in Richtung der Lichter.
»Wird es…«, wusste Nanaki nun.
Die Lichter erhellten Pazu und Rin. Die beiden hingen kopfüber an einem Pfahl. Sie sahen schrecklich aus. Die Arme nach oben gestreckt, wie es Nanaki schon öfter gesehen hatte. Ihre Schwänze waren abgeschnitten.
Nanaki war ganz ruhig. Gilligan war verschwunden.
Er hatte nicht den Mut, die Nibel-Bären genauer zu betrachten und überprüfte stattdessen die Umgebung. Es gab dort drei Berghütten, jede einzeln beleuchtet. Als er genau hinhörte, konnte er Gelächter von Männern und Frauen vernehmen. Vielleicht waren sie gerade am anstoßen. Es schien so, als gab es keinen Ausguck. Nanaki konnte immer noch nicht direkt zu den Brüdern schauen.
»Bin ich hergekommen, um die beiden zu rächen?« Solch Emotionen gehörten nicht zu Tieren.
»Menschen und Nibel-Bären mögen zwar schon lange Feinde sein, aber das ist im Grunde nichts Persönliches.«, dachte Nanaki.
»Menschen sind die einzigen, die Groll hegen können.«
Vielleicht lag es an der Luft, aber Nanaki wurde bewusst, dass er sich von Herzen rächen wollte. Das war kein Gefühl eines Tieres. Es war menschlich.
»Geee«
Nanaki hörte die Stimmen der beiden Brüder. Er war überrascht. Es klang, als würden sie ihm sagen, welch Schmerzen sie haben. Obwohl sie an Größe gewonnen hatten, waren es doch immer noch Kinder, die erst vor ein paar Jahren geboren wurden.
Tiefe, dunkle Gefühle breiteten sich in Nanaki aus. Es war nicht Gilligan, aber sie verschlungen allmählich seine Sinne. Sie übernahmen seinen Verstand genauso sehr, wie er versuchte, die Rachegelüste zu unterdrücken.
Das Geräusch eines weinenden Babys war aus den Hütten zu hören.
»Aha. Sie haben dort ein Baby. Es ist sicher sehr süß.« Ein Baby…»Babys sind sündenfrei. Vielleicht heißt das, dass ich es einfach ertragen soll.«
Nanakis Herz war hin- und hergerissen zwischen Mensch oder Tier sein.
„Psching“!
Eine Kugel traf in den Boden direkt neben Nanaki. Er war so aufgebracht, dass er nicht einmal das Geräusch von Gewehrschüssen wahr nahm.
Er sah wieder zu Pazu und Rin. Ihre Stimmen waren nur Einbildung gewesen. Sie starben schon vor einer Weile. Er sah in ihre Augen. Er sah, wie hell und rot die geschlossenen Augen unterhalb der Lider waren. Das Licht wurde in ihnen reflektiert.
Er fühlte, wie sich die Flammen auch in seinen eigenen Augen ausbreiteten. Seine Augen wurden heißer. Die Umgebung war so hell und rot gefärbt, dass er nichts mehr sehen konnte.
Er hörte einen weiteren Gewehrschuss in seinen Ohren tönen. Er folgte dem Klang des Feindes und platze in eine der Hütten. Das zerbrochene Glas des Fensters lag verstreut im Haus. Es gab dort einige bewaffnete Männer.
»Menschliche Emotionen haben mich hergebracht, aber hier drin habe ich den Instinkt eines Tieres.«
Er konnte die Menschen nicht mehr voneinander unterscheiden.
Ein Gewehrschuss erklang und ein scharfer Schmerz ging entlang seiner Wange. Das war das Zeichen. Nanaki sprang den Mann an, der ihm am nächsten stand.
Er konnte sich nicht mehr erinnern, was danach geschah. Alles woran er sich erinnerte, war der Schmerz einer Kugel, die durch seinen Körper ging, und das Weinen eines Jungen.
»Ich wollte dein Freund sein!«
Nanaki wachte auf. Es sah so aus, als war er auf einem blutigen Holzboden zusammengebrochen. Er drehte seinen Kopf, um sich umzuschauen. Seitlich im Raum saß ein bekannter, in rot gekleideter Mann, der ihn anschaute.
»Kannst du aufstehen?«, fragte Vincent ein wenig besorgt.
»Vincent? Vincent! Was machst du hier?«
»Das wollte ich dich fragen.«
Vincent antwortete, als hätte er nicht wirklich Interesse.
Vincent redete nicht viel, aber er fühlte, dass er es jetzt wollte, nachdem er im Leben viel unterwegs war. Selbstverspottend sagte er, er wartete darauf, dass etwas passiert.
Während seiner Reisen sah er zufälligerweise den Helikopter der Turks und folgte ihm, wodurch er dann in diesem Dorf ankam. Dort landete auch der Helikopter. Elena suchte etwas und war mit den Jägern in den Wald gegangen. Kurz darauf kam sie mit einem verwundeten Jungen zurück und in der Nacht tauchten zwei Nibel-Bären auf. Nachdem sie bekam, was sie wollte, verschwand Elena mit dem Helikopter.
Gerade als Vincent das Dorf verlassen wollte, kam Nanaki an. Er hörte die Jäger auf Nanaki schießen, der in eines der Häuser geplatzt war. Als er sah, was passierte…
»Du hattest einen Jäger heruntergedrückt und wolltest gerade in seinen Hals beißen. Ein Junge weinte und meinte irgendetwas von wegen Freunde sein. Ich weiß nicht, was mit dir los war, aber als ich in deine Augen schaute, warst du nicht der Nanaki, den ich kannte. Du warst wie eine Menschen angreifende Bestie. Deshalb habe ich geschossen.«
Nach dem Schuss gab es allgemeine Verwirrung und da er wusste, wie gefährlich die Situation war, da die Jäger Waffen besaßen, zwang er sie, die Hütte zu verlassen. Dann sagte er ihnen Lebewohl.
»Ich habe ihnen einen kleinen Schrecken eingejagt. Ich habe mich verwandelt.«
Danach behandelte er den bewusstlosen Nanaki und wartete.
Nanaki sah sich im Raum um. Hier und da war Blut auf dem Boden.
»Habe ich jemanden getötet?«
»Nein.«
»Verstehe. Da bin ich froh.«
Dann gab es einen Moment der Stille zwischen den beiden. Nanaki versuchte aufzustehen um nach draußen zu schauen. Er mühte sich ab, aber er schaffte es irgendwie, hoch zu kommen. Vincent fing wieder an zu reden, als würde er sich an irgendwas erinnern.
»Sie haben die Bären von draußen mitgenommen. Hätte ich sie aufhalten sollen?«
»Nein. Sie sind ihnen sicher mehr von Nutzen. Das ist das Gesetz des Waldes. Oder ist es vielleicht das Gesetz außerhalb des Waldes? Vincent. Ich versteh es einfach nicht mehr. Ich kann es einfach nicht.«
»Ich hab nichts dagegen, dir zuzuhören.«
Als Nanaki diese Worte hörte, fing er an zu reden, während Vincent still blieb. Er erzählte ihm alles was passier war – von den ohrenbetäubenden „Geee! Geee!“ Baby Bären bis zu dem Punkt, als er Vincent traf.
»Was hätte ich tun sollen?«
Vincent blieb still.
Gerade als Nanaki dachte, er würde keine Antwort bekommen, sagte Vincent: »Meiner Meinung nach, wenn du diese Ereignisse noch einmal Revue passieren lässt, bekommst du eine Antwort. Aber wenn du wieder darüber nachdenkst, könnte die Antwort anders sein. Es gibt eine Antwort, aber es gibt nicht nur eine einzige. Du solltest weiterleben, um darüber nachzudenken.«
»Wichtig ist, dass du diese Ereignisse nicht vergisst.«, sagte Vincent.
»Hmmm…«
Nanaki fühlte sich, als hätte er es zu einer Hälfte verstanden und zur anderen nicht. Seine Gefühle waren zweigeteilt.
»Vielleicht verstehst du es, wenn ich dir Folgendes sage.«, fügte Vincent hinzu, als könnte er Nanakis Gedanken lesen.
»Das, von dem du denkst, es wäre richtig, kann im nächsten Moment falsch sein. Komplett falsch.«
»Das sagt mir aber nicht, was ich hätte tun sollen. Egal, wie sehr ich darüber nachdenke. Ich kann einfach nicht entscheiden, was der richtige Weg gewesen wäre.«
»So ist es einfach.«, sagte Vincent und stand auf, als war das alles, was er zu sagen hatte. Dann fuhr er fort, als erinnerte er sich: »Du kannst dich auch entscheiden, überhaupt nichts zu tun. So hab ich mich mal entschieden.«
»Was kam dabei heraus?«
»Für meine Vergeltung war es wohl das Beste.«
Vincents Umhang schlug heftig um sich, als er sich umdrehte und die Hütte verließ. Nanaki stand hastig auf und folgte ihm.
Vincent ging Richtung Osten. Nach einiger Zeit erreichte er ein verlassenes Ödland, das abseits der üblichen Wege lag.
»Wo gehst du hin?«
»Was machst du, wenn ich es dir sage?«
»Kann ich nicht mit dir kommen?«
»Warum?«
»Weil…« »…ich mich nach Begleitung anderer sehne.«, dachte Nanaki.
»Ich will gerade nicht alleine sein.« Sie waren am Ende des Ödlandes angekommen. Sie liefen unterhalb eines Abhangs, der etwa die Höhe eines kleinen Gebäudes hatte. Und er wollte nicht alleine gelassen werden.
»Deine Antwort ist komplett falsch.«
Vincent ging lässig nach oben, als ob er gerade springen wollte.
»Vincent!«
Aber es war zu spät. Er konnte weder den roten Umhang, noch eine Antwort hören.
»…du könntest dich auch irren, Vincent.«
Als er Vincent das hinterher rief, wurde ihm etwas klar.
Egal wer Recht hat oder ob man darüber nachdenkt, was man hätte tun sollen oder nicht – sich selbst zu quälen bringt nichts.
Die Vergangenheit kann nicht ungeschehen gemacht werden und vor einem liegt nur die Zukunft. Wichtig war, dass man niemals vergisst, sich zu erinnern. Wenn man das tut, findet man vielleicht eine Antwort. Und wenn man sie gefunden hat, könnte sie von Nutzen sein. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Es ist eine sehr kleine Sache, verglichen mit dem täglichen Leben.
»Weder ich, noch Pazu oder Rin hatten irgendwelche Sorgen, als wir im Wald waren. Die Tage dort waren voller Freude.«
Nanaki legte sich nieder und dachte an alles zurück, was im Wald passierte.
Er erinnerte sich an die schlechte Schlafhaltung der Brüder, obwohl sie Tiere waren. Dann an die Zeit, in der Pazu fast im Wasser ertrunken wäre und an Rin, der von einem Baum fiel. An den ersten Fisch, den die Brüder fingen. Sie aßen sofort alles auf einmal. Nanaki lächelte. Aber seine Tränen liefen immer weiter.
»Auf wiedersehen, Tierwelt.« Nanaki stand auf und lief in Richtung Osten. Nach einem kurzen Moment änderte er seine Meinung und lief nach Norden.