Was ist Tragik? In der Schule lernt man im Deutschunterricht, dass Tragik, anders als in der Umgangssprache, die schicksalshafte Verwicklung einer Person in ausweglose Ereignisse, die außerhalb seiner Beeinflussung liegen, ist. Der tragische Held wird, oft durch das Wirken höherer Mächte, auf Pfade geführt, denen er nicht entrinnen kann. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sein Schicksal zu bejahen, auch wenn es ihn in den Untergang treibt.
Ich habe mich oft gefragt, ob Sephiroth auch so ein tragischer Held ist.
Ich glaube, es gibt Anzeichen die dafür sprechen. Schon vor seiner Geburt werden er und seine Mutter Lucrecia mit Jenova-Zellen und Mako-Energie behandelt. Dass er eine unmittelbare, von Geburt an bestehende Verbindung mit Jenova hat, ist eine Tatsache und gehört zu seinem Sein dazu. Er kann dieser Tatsache nicht entfliehen und darum scheint sie seinen kompletten Lebensweg vorzuzeichnen: Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten, seine Ausbildung zum Krieger, der Dienst bei Shinra. Schließlich die unausweichliche Entdeckung, unter welchen Umständen er geboren wurde. Sein Zorn, seine Rache an Shinra und allen Menschen. Dann sein unrühmliches Ende: Seine Rache treibt ihn in den Untergang.
Wenn Jenova ihn kontrolliert…
Manche Leute behaupten ja, dass Sephiroth von Jenova kontrolliert wird und er ihr Werkzeug ist. Wenn das stimmt (glaube ich nicht), dann könnte einem ja folgender Gedanke kommen: Sephiroth als tragischer Held, der nie eine andere Wahl hatte, als Jenovas Marionette zu werden. Ok, eine Marionette würde man nicht gerade „tragisch“ nennen, und ein Held wäre er dann schonmal gar nicht. Aber der Sephiroth, der noch nicht in Jenovas Bann geraten ist, der ist tragisch!
Warum?
In der Wikipedia findet man diese Definition:
Ein tragisches Ereignis muss einerseits ein Leiden sein, weil es sonst nicht selbst Leid wecken könnte; aber es darf nicht die gerechte Strafe eines wirklichen Verbrechens sein, denn dies würden wir zwar bedauern, aber nicht bemitleiden. Anderseits muss es furchtbar sein, weil wir es sonst nicht fürchten würden, und es muss willkürlich verhängt sein. Nur das unverdiente Leiden ist wirklich tragisch, eine „Ungerechtigkeit des Lebens gegen den Menschen“.
Er ahnte sein ganzes Leben, etwas Besonderes zu sein, anders als die anderen. Als ihn sein Weg nach Nibelheim führte, kann er aufklären, worin diese Besonderheit liegt. Aber als er zum ersten Mal seinen Fuß nach Nibelheim setzt, gibt es für ihn kein Entrinnen mehr. Die Kräfte des Schicksals, die zu seiner Geburt geführt haben, setzen sich wieder in Gang und führen ihn geradewegs in den Untergang. Wenn er Gasts Aufzeichnungen liest, dann ist das die „Katastrophe“ in seinem Leben, nach der es keine Rettung mehr gibt. Die Erkenntnis, dass er ein „Monster“ ist, ist das Leiden; dieses Leid ist keine Strafe, denn man tat ihm die Jenova-Behandlung schon vor seiner Geburt (=Unschuld) an. Dass seine Mutter für das Experiment auserwählt wird und ihn hergibt, ist völlig willkürlich und ungerecht und das ganze Jenova-Experiment ist furchtbar.
Ihm bleibt dann keine Möglichkeit mehr sich zu widersetzen und darum unterwirft er sich Jenova, holt ihren Kopf und springt in den Mako-Pool, was sein Ende ist. Danach übernimmt Jenova die Kontrolle, darum endet hier die Sephiroth-Tragödie.
Wenn Jenova ihn nicht kontrolliert…
Aber ich habe ja schon gesagt, dass Sephiroth gar nicht Jenovas Marionette ist und ich finde das ganze ist viel tragischer, wenn man annimmt, dass Sephiroth auch nach seinem Sprung ins Mako der Schurke ist.
Der Nibelheim-Vorfall ist dann immer noch die Katastrophe für Sephiroth: Er fühlt sich jetzt als Monster und den Menschen nicht mehr zugehörig. Er weiß auch, dass er als Außenseiter dem Untergang geweiht ist: Shinra wird niemals zulassen, dass er dieses furchtbare Geheimnis publik macht. Und die Menschen reagieren im Allgemeinen ziemlich bösartig auf Monster. Aber er erkennt auch, wie unglaublich mächtig er ist, da er mit den Fähigkeiten der Cetra (er glaubt, Jenova wäre eine) ausgestattet ist. Darum tut er das einzig vernünftige. Er springt in den Pool, gelangt in den Lebensstrom und kann so die Geheimnisse des Alten Volkes lernen. Außerdem erfährt er hier wahrscheinlich, was Jenova wirklich ist, welche gigantische Macht (noch größer als die der Cetra) sie hat und wie er diese Macht benutzen kann. Und schließlich erfährt er etwas über Meteor und die Schwarze Materia.
Damit hat er alle Zutaten die er braucht, um seinem Schicksal entkommen zu können. Das Monster nimmt Rache an den Menschen, die ihm dies angetan haben und er will sich über sie erheben: Indem er den Planeten tödlich verwundet, sammelt er Lebensenergie an einem Ort, absorbiert sie und erhebt sich als Gott über alle anderen Kreaturen.
Aber in jeder guten Tragödie kann der tragische Held natürlich nur scheinbar seinem Schicksal entkommen. Im Gegenteil: Erst war Sephiroth nur unschuldiges Opfer, jetzt wird er zum Schuldigen. Das ist noch ein wichtiger Punkt in der Tragödie. Die Hybris (=Anmaßung/Überheblichkeit) des Helden, für die er bestraft wird. Auf CetraConnection habe ich einen Satz gefunden, der die Hybris von Sephiroth gut beschreibt:
Das Motiv des “Engels mit nur einem Flügel” wird oft als Zeichen von Sephiroths Hybris gedeutet. Er lehnt sich als Einzelner gegen die ganze Welt auf, beansprucht für sich alleine die absolute Göttlichkeit und ist dabei doch nicht komplett. Das Zeichen diesen “nicht Komplettseins” ist sein fehlender Flügel. Nur in der Gruppe bzw. vereint findet die Menschheit Fortschritt und Erfolg, der einzelne für sich kann und darf sich niemals derart über alles und jeden erheben, wie Sephiroth es versucht. Darum muss er auch scheitern.
Deswegen ist es unausweichlich, dass Cloud und seine Freunde Sephiroth am Ende besiegen und seinen finsteren Plan vereiteln können. Der vermeintlich Unschuldige wird als Schuldiger enttarnt und für seine Untaten bestraft. Die Welt rückt wieder ins Gleichgewicht und das Tragische ist aufgelöst.