Kapitel 01 – Zuerst, ein wenig über mich selbst

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Als ich 14 Jahre alt war, nahm ich diesen grauen Kater auf. Ich fand ihn am Straßenrand, so jämmerlich miauend, wie man es sich nur vorstellen kann, und brachte ihn mit nach Hause. Während ich damit beschäftigt war mir einen coolen Namen für ihn auszudenken, begann meine Mutter bereits damit, ihn „Grey“ zu nennen. So eine Art Person war meine Mutter halt. Es ist eine graue Katze, also lasst ihn uns „Grey“ nennen. Ich beschwerte mich, aber letztendlich konnte ich keinen Alternativnamen liefern.

Grey ignorierte den Stuhl und das Kissen, welches wir für ihn bereitgestellt hatten und verbrachte stattdessen seine Zeit außerhalb des Hauses, über Katzenangelegenheiten grübelnd und schlafend. Dann, ein halbes Jahr später muss er zu dem Entschluss gekommen sein, dass er hier nicht hin gehörte, da Grey irgendwohin verschwand. Ich war 15. Ich wusste nicht, wie alt er war.

„Vielleicht mochte er es hier nicht?“

„Er tut das, was alle Jungs tun, sie verlassen ihr Zuhause.“

Auf dem Gesicht meiner Mutter lag ein wissender Blick, als sie eines Nachts dies sagte, während wir in Erinnerungen über Grey schwelgten. Ich hatte niemals darüber nachgedacht von Zuhause wegzugehen und meine Mutter zurück zu lassen. Ich wollte damit beginnen, mir meinen Weg selbst zu verdienen, sodass ich ihr damit helfen konnte. Meine Mutter arbeitete den Tag über in einem Café und von abends an bis spät in die Nacht in einer Bar. Sie war ständig erschöpft. Doch jedes Mal, wenn ich einen Job fand,  gab es einen Grund, die Idee fallen zu lassen. Ich denke, es lag an der Krankheit, die ich hatte. Es war mein Herz. Aber ich hatte eine Operation, als ich fünf Jahre alt war, weshalb es  in Ordnung sein sollte und von da an war auch immer alles gut. Ich war die Gesundheit in Person.

„Hey, ich habe nachgedacht und ich möchte wirklich arbeiten gehen. Das würde dir einiges erleichtern, richtig?“

„Danke. Aber erst in zwei Jahren. Wenn du 17 bist.“, sagte sie, während sie mit den Locken ihres hübschen, jedoch nach Tabakrauch stinkenden, blonden Haares spielte.

„Warum 17?“

„Weil ich mir sicher bin, dass Grey auch 17 war.“

Es ergab überhaupt keinen Sinn. Warum sollte Arbeiten und das Verlassen des eigenen Zuhauses das Selbe bedeuten. Ich dachte daran, dass wir dies ausdiskutieren sollten, doch es tat weh mit ihr sprechen zu müssen, wenn sie betrunken war.

Ein halbes Jahr später sah ich Grey auf der Straße wieder. Nun, zumindest einen Kater der, wie Grey aussah. Er hatte sich in einen Streuner gewandelt, die Spitze einer seiner Ohren fehlte und er war mit Narben übersät. Ich rief Grey, doch er sah mich ohne die leiseste Spur von Begeisterung an. Kurz darauf schaute er weg und ging davon. Ich folgte ihm. Ohne sich auch nur einmal umzudrehen, kletterte er den Zaun eines nahestehenden Hauses hoch und machte sich auf den Weg zum Dach. Nun war er völlig außer Reichweite.

Ich möchte arbeiten, warte noch etwas — Dasselbe Gespräch lief immer wieder in gewohnten Intervallen ab. Die meisten meiner Freunde waren bereits arbeiten und selbst wenn sie es nicht taten, verdienten sie sich zumindest ihr eigenes Taschengeld. Es fühlte sich an, als ob sie alle auf  diesem Dach saßen, mich auslachend.

 Midgars Sektor 6. Das Ende einer belebten Straße, mit vielen Läden und Restaurants. Unser Haus war in einer der Gassen, zwischen einem Bücherladen und einer Waffenschmiede, aus der es ständig dampfte und nach Rost stank. Häuser, die das typisch einfache Aussehen wie in Kinderzeichnungen hatten und aus einem Material gebaut waren, das aussah wie Ziegel, standen eng zusammen. Sie wurden offenbar eine Weile als Wohngebiet für ShinRa-Angestellte niedrigen Ranges genutzt, nachdem Midgar fertiggestellt worden war. Später wurden die Unternehmenswohnungen in die Sektoren 7 und 5 verlegt. Diese Gegend sollte ursprünglich abgerissen werden, bis jedoch ein reicher Typ, welcher einige Lokale in der Gegend führte, die Wohnungen von ShinRa pachtete, damit die Arbeiter seines Unternehmens darin leben konnten. Die Miete war spottbillig. Viele Menschen von der unteren Welt – das heißt, aus ländlichen Gebieten oder den Slums, welche nach Midgar mit dem Traum, etwas aus sich selbst zu machen, gekommen waren – wohnten hier. Jeder war arm. Dies war ein Platz für Leute, die es nicht unter die relativ reiche Gesellschaft von Midgar geschafft hatten. Doch jeder hier war sich einig, dass es das Leben in den Slums übertraf.

Es war eine Woche vor meinem 17. Geburtstag. Das Klingeln des Telefons weckte mich. Ich konnte hören, wie meine Mutter zu jemandem mit leiser Stimme sprach. Als ich aufstand, säuberte sie gerade die Küche beziehungsweise das Esszimmer. Säubern und aufräumen – in anderen Worten, Ordnung im Haus halten – war meine Aufgabe. Zuhause bei meinem Lehrer lernen, mit meinen Freunden reden. In der Stadt herum laufen. Fernsehen mit schlechtem Empfang schauen. Für mich,  als jemand ohne wirkliche Verantwortungen, war dies mein einziger Beitrag zu unserem Leben. Ich habe dabei nie den einfachsten Weg gewählt. Als ich mit ihr darüber diskutierte, dass ich es gestern schon erledigt hätte, erzählte sie mir, dass ein Gast zu Besuch kommen werde.

„Ich möchte, dass du ihn kennen lernst, könntest du dich also umziehen?“ sagte sie, ohne mich anzusehen. Irgendetwas daran fühlte sich falsch an und dieses Gefühl sollte sich bewahrheiten.

Nick Foley war Mitte 30, genau wie meine Mutter. Seine große Gestalt war gekleidet in einem maßgeschneiderten, grauen Anzug. Über seiner hellrosa Krawatte mit weißen Punkten saß sein kleines, attraktives Gesicht. Er stand im Eingang, ein freundliches Lächeln auf seinem Gesicht, als er auf mich herab sah.

„Nenn mich Nick. Ich arbeite in einer Geschäftsstelle des ShinRa-Konzerns.“

Der Art und Weise nach, wie er lächelte und sich vorstellte, war es als würde er uns schon als Freunde betrachten. Hätte ich meine Verteidigung fallen gelassen, hätte es sicher dazu geführt, dass ich ihn Nick nannte.

„Du kommst ganz nach deinem Vater, richtig?“

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen bereute Nick Foley, dies gesagt zu haben.

„Sie kannten meinen Vater?“

Mein Vater starb in Wutai kurz vor meiner Geburt. Es existierte nicht ein einziges Foto von ihm, deshalb wusste ich nicht, wie er aussah.

„Was? Nein, ich meinte nur, du siehst nicht sehr nach deiner Mutter aus. Ich habe gehört, was passiert ist… Tut mir Leid. Aber du bist ein gut aussehender Junge, nicht wahr? Ich wette, du kommst gut bei den Mädchen an.“

Ich musste wirklich komisch geschaut haben, denn Nick Foley sah augenblicklich hinüber zu meiner Mutter, um Unterstützung zu bekommen.

„Möchtest du etwas von dem Kuchen, den Nick mitgebracht hat? Er ist von Mrs. Tosca!“

Sie machte einen ziemlichen Lärm, als sie die Teller auf den Tisch stellte und Stücke des übermäßig dekorierten Kuchens darauf platzierte.

Einen von Mrs. Toscas wahnsinnig teuren Bergen an Zucker und Creme zu essen war ein Vergnügen, das sich meine Mutter für die Tage, an denen sie ihr Gehalt bekam, aufhob.

Sie liebte es sich Zeit zu nehmen, um sie zu genießen, ihr kleine Belohnung.

„Kommt, ihr zwei, setzt euch.“

„Das ist er also. Ich warte darauf, einen von diesen Kuchen zu probieren, seit ich das erste Mal von ihnen gehört habe. Normalerweise interessiere ich mich nicht einmal für solchen Süßkram.“

Nick saß auf meinem Platz während er sich weiter über sinnlosen Mist ausließ. Bitte, stirb einfach. Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht meiner Mutter. Es standen drei Stühle um den Tisch. Zwischen den beiden verbleibenden Stühlen saß ich dem Feind gegenüber, auf dem sonstigen Platz meiner Mutter. Sie saß auf den Stuhl, der für unsere seltenen Besucher aufgehoben wurde. Nick Foley schien die Kühle, die in der Luft lag, ebenfalls bemerkt zu haben. Er seufzte schwer und sah direkt zu mir. Er stellte seine Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände vor seinem Gesicht.

„Ich wollte dich schon viel früher kennen lernen, aber ich habe nie Zeit gefunden. Die Zeit ist nun wirklich ziemlich knapp. Du hast schon von mir gehört, richtig?“

Nick Foley sah hinüber zu meiner Mutter. In einem kaum hörbaren Ton sagte sie, dass es ihr Leid täte, sie hatte es nicht sagen können.

„…Toll. Aber die Vorbereitungen sind schon alle getroffen, also können wir es nicht verschieben. Wir werden Midgar in zwei Tagen verlassen. Pack’ deine Sachen zusammen.“

„Wovon sprichst du?“

„Ich habe mit deiner Mutter mehrmals darüber gesprochen. Du wirst mit uns kommen. Schließlich gehörst du zur Familie. Ich gehe nun nach Hause, aber solltest du noch irgendetwas wissen wollen, wird deine Mutter…“

Nachdem ich den Kuchen samt Teller vom Tisch geworfen hatte, stampfte ich mit meinem Fuß auf den Boden, als ich aufstand und danach geradewegs durch die Eingangstür verschwand.

Das Klirren des Tellers klingelte in meinen Ohren nach. Ich fühlte mich schlecht, etwas getan zu haben, was überhaupt nicht mir entsprach. Wenn ich mich wieder beruhigt habe, gehe ich nach Hause und rede mit meiner Mutter. Es schien eine Menge zu geben worüber ich nichts wusste. Dennoch, verschwinden in zwei Tagen? Wohin verschwinden? Nein. Es war egal wohin, ich wollte nicht gehen. Mit diesem Mann schon gar nicht.

Ich beschloss, zwei Tage lang die Zeit totzuschlagen. Dann würde ich nach Hause zurückkehren. Wenn ich das so anginge, wären die Pläne von Nick Foley und meiner Mutter vereitelt.

Es wäre wahrscheinlich für eine Weile unbehaglich, doch was sollte man machen. Es wird schon bald alles wieder normal – dachte ich mir immer wieder, während ich durch Sektor 7 hinüber zum Lagerhallenblock in Sektor 8 ging. Die übliche Zuflucht für ausgerissene Jugendliche.

Und dann wurde ich in den Sektor-7-Zwischenfall verwickelt. Die Siebte von mehreren Stützsäulen, die das mächtige Gewicht Midgars gigantischer, runder Basis von dem Boden darunter in der Luft hielten, wurde gesprengt, sodass die Platte in den darunterliegenden Slum stürzte. Viele Leben waren verloren.

Zur Zeit der Explosion befand ich mich an der Grenze zwischen Sektor 7 und 8. Als die Stadt durch die Druckwelle erschüttert wurde, rannte ich instinktiv in die Richtung von Sektor 8. Zunächst wusste ich nicht, was passierte. Ich rannte ohne nachzudenken, den Menschenscharen folgend. Irgendwann erfuhr ich, dass Sektor 7 eingestürzt war. Es gab Meldungen, dass Sektor 8 sicher sei, doch gewiss war dies nicht. Ich machte mir Sorgen um meine Mutter. Ich versuchte, durch Sektor 0 in der Mitte der Stadt, nach Hause zu laufen, doch dieser Weg wurde von der ShinRa-Armee, die Ausschau nach den Terroristen hielten, versperrt. Da mir keine andere Wahl bliebt, beschloss ich mir einen Weg hintenherum zu erarbeiten, durch Sektor 8, 1, 2 und so weiter. Die Leute hatten Angst, wo es wohl die nächste Explosion geben würde. Diese geistesgestörten Terroristen hatten gerade erst den Mako-Reaktor in Sektor 1 in die Luft gesprengt.

Drei Tage später erreichte ich mein Zuhause, nachdem ich fast einmal um Midgar herum gelaufen war. Ich benötigte drei Tage für einen Weg, für den man ohne Pause eigentlich nur einen Tag gebraucht hätte. Ich hatte mich in den unbekannten Straßen von Sektor 8 verlaufen und bekam Panik. Kurze Zeit später war es Nacht. Der kalte Wind, welcher durch die Gassen zwischen den Lagerhäusern wehte, entzog meinem Körper gnadenlos die Wärme. Ich verfluchte meine Glieder für ihre Schwäche und sah ich mich nach einem Platz zum Ruhen um. Letztlich taumelte ich durch ein leeres Lagerhaus und brach auf einer verlassenen Matratze zusammen. Auf einmal erschien aus dem Nichts eine Gruppe von Typen, die mich mit einem bösen Funkeln in den Augen ansahen. Sie waren im selben Alter wie ich, doch wäre ich eine Hauskatze gewesen, so wären sie Streuner. Sie bestanden darauf, dass ich dafür bezahlen musste, um diesen Platz benutzen zu dürfen und behaupteten, so sei die Regel an diesem Ort. Jedoch hatte ich nichts bei mir, was ich ihnen hätte geben können. Am Ende bezahlte ich damit, als Sandsack für ihre Frustrationen zu dienen. Dort, wo sie meinen Rücken und Bauch getreten hatten, brachte mich der Schmerz fast um.

Die Nacht Schlaf half auch nicht wirklich dabei, mich besser zu fühlen. Jedoch wollte ich nicht noch einmal die Gebühren dafür zahlen, um hier zu bleiben. Mehr als ich mich um meine Mutter sorgte, wollte ich nach Hause. Ich sammelte meine Energie und verließ den Verschlag der Streuner.

Ich taumelte weiter, legte auf meinem Weg häufig Pausen ein und schaffte es am Nachmittag des dritten Tages nach Hause zu kommen. Das Haus war heil. Meine Mutter war nicht da, doch das war normal, wenn sie arbeiten musste. Ich nahm Erkältungsmittel und kroch ins Bett. Ich schlief ein, während ich daran dachte, dass ich zu meiner Mutter gehen würde, sobald ich aufwachte. Es war bereits Nacht, als ich erwachte. Mir ging es immer noch nicht gut. Jedoch vermutlich gut genug, um zur Kneipe und wieder zurückzukommen. Zunächst nahm ich eine Dusche. Ich trocknete mich mit einem Handtuch und ging zurück in mein Zimmer, zog mir Unterwäsche an und eine schwarze Hose. Als Oberteil wählte ich einen übergroßen, marineblauen Pullover, der meinen Körper versteckte. Dies war das erwachsenste Outfit in meinem Schrank. Mein großer, dennoch schmächtiger Körperbau war eine Zielscheibe für Spott in der Kneipe. Ich war mir sicher, dass mir der Zutritt verwehrt blieb, mit den üblichen Bemerkungen, das Kind solle sich ein Glas Milch holen und dann ins Bett gehen.

Als ich gerade dabei war über die Schwelle zu treten, quälte mich der Gedanke, mein Bett unordentlich zurück zu lassen. Als ich die dünne Decke und das Kissen gerade strich, bemerkte ich einen Briefumschlag, der unter die Decke gelegt worden war. In ihm war eine große Summe Geld und ein Brief von meiner Mutter. Ich las den Brief. Ich gehe mit Nick, wie es geplant war. Wir werden dich kontaktieren, sobald wir uns niedergelassen haben, um dir mitzuteilen, wo wir sind. Benutze das Geld aus dem Umschlag und warte auf meinen Anruf. Bewahre die Hälfte des Geldes, um damit die Reise zu unserem neuen Zuhause bezahlen zu können – das Ganze war absolut unpersönlich und geschäftsmäßig. Der Sektor-7-Zwischenfall ereignete sich an dem Tag, an dem ich davon gelaufen war. Sie musste davon und über die Ausmaße des Schadens Bescheid gewusst haben. Doch sie verschwand mit einem Mann, ohne vorher sicherzustellen, ob ihr Sohn in Ordnung war. Und sie schien zu denken, dass ich einfach angerannt käme, wenn sie mir sagte, wo sie sich befände. Ich konnte das nicht fassen.

Ich lief in das Zimmer meiner Mutter und öffnete die Tür des Kleiderschranks. Auf den Kleiderbügeln hingen ein paar ihrer Outfits für ihren Tagesjob, welche ein wenig zu jung für ihr Alter aussahen, und einige schreckliche für ihren nächtlichen Job. Es sah so aus, als hätte sie ihre Arbeit ebenfalls zurückgelassen. Ihre Alltagskleidung, die für gewöhnlich unter der anderen unordentlich verstreut herum lag, war verschwunden. Für eine Weile saß ich auf dem Bett meiner Mutter, geistesabwesend. Dann auf einmal erinnerte ich mich an unser kleines Familiengeheimnis, versteckt in der Zimmerdecke.

Ich holte einen Stuhl aus dem Esszimmer und platzierte ihn in der Mitte des Zimmers. Ich stieg auf ihn und streckte meine Hände aus, um eine der Deckenkacheln zu entfernen. Sachte warf ich die Kachel auf das Bett und sah anschließend durch das quadratische Loch, das nun in der Decke war. Meine Mutter hatte dort eine Kiste versteckt. Darin waren Geld und andere Reichtümer. Das Geld war ihr wöchentlicher Lohn und die Reichtümer waren „meine ersten Besitztümer“. Meine Nabelschnur, Haar von meinem ersten Haarschnitt und den ersten Zahn, den ich verloren hatte – egal wie man es sah, jedes von ihnen war gruselig, doch ich denke, für meine Mutter waren es unersetzliche Reichtümer.

Als ich meine Hand in die Zimmerdecke streckte, berührte ich mit den Fingerspitzen die Truhe. Es schien, als hätte sie jemand nach hinten geschoben und nun konnte ich sie nicht mehr greifen. Ich hielt mich mit beiden Händen an der nächsten Kachel fest und zog mich nach oben. Ich war dabei meinen Kopf hinein zu stecken, um nachzusehen, doch die Kachel brach. Ich fiel, als ich das Gleichgewicht auf dem Stuhl verlor, und landete auf dem Boden. Vor meinen Augen lagen einige Stücke der gebrochenen Kachel und die Schatzkiste. Außerdem lagen da noch zwei Papierbeutel. In der Kiste – es war eine alte hölzerne Käsekiste, auf welche ich mit Buntstiften die lila Äpfel, welche ich gerne mochte, aufgemalt hatte, als ich klein war – waren alle Reichtümer unversehrt. Auch das Geld, von dem ich dachte, dass es der Rest von ihrem Lohn sei. Mit anderen Worten: Das Geld, das unter meinem Kissen lag, war nicht hieraus. Doch woher kam es dann? Aus Nick „Stück Scheiße“ Foleys Brieftasche?

Als nächstes öffnete ich eine der Papiertüten, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Sie war weiß und brandneu. Als ich hinein sah, konnte ich es kaum fassen. Irrsinnig war wohl das passende Adjektiv, um die Menge an Geld zu beschreiben, die sich in der Tüte befand. Davon konnte ich gut ein Jahr lang komfortabel leben. Das Geld war, genau wie die Tüte, neu. Die Banderole an einem der Geldbündel war lose. Das Geld, das unter meinem Kissen gelegen hatte, schien von hier zu kommen. Ich fühlte mich, als hätte ich soeben den Kern des Geheimnisses ergründet und es begann Sinn zu ergeben. Doch das war nicht das Herzstück des Problems. Woher kam nur all dieses Geld? Ich konnte nur an eine Person denken. Nick „ich hasse ihn“ Foley.

Die andere Tüte war aus einem dickeren, blassgrünen Papier. Als ich das Klebeband von der Öffnung entfernte, erblickte ich eine dunkle Ledertasche. Sie hatte eine robuste Form mit einer Klappe mit Metallverschluss und mit dieser Art von Tristheit, wie man sie bei Militärausrüstung oder so etwas erwarten würde. Sie hatte einen Riemen, der sich in der Länge verstellen ließ. Es war die Art von Umhängetasche, von der man dachte, sie gehöre einem erwachsenen Mann, und einem abgehärteten Abenteurer noch dazu. Als ich die Klappe öffnete, war dort eine kleine Karte in der Tasche.

Herzlichen Glückwunsch zum 17. Geburtstag. Ich hoffe, du wirst die Art von starkem Mann, der dieser Tasche würdig ist. Deine Mutter

Meine Mutter hatte also ein Geburtstagsgeschenk für mich vorbereitet, es versteckt und ist dann abgehauen. Verschwunden mit einem gut aussehenden Mann. Lies einen Haufen Geld und ihren Sohn zurück. Wie passte dass alles zusammen. Ich saß auf dem Bett meiner Mutter und dachte darüber nach. Doch es schien, als würde ich keine richtige Antwort finden. Meine Mutter würde mich irgendwann kontaktieren. Ich dachte, ich musste einfach bis dahin warten. Ich beschloss die Zimmerdecke zu reparieren.

Ich hob die zerbrochene Deckenkachel auf, kletterte auf den Stuhl und platziere sie an ihren üblichen Platz. Als nächstes die Kachel, die ich zuerst entfernt hatte. Diese passte nicht richtig in ihren Platz. Meine Arme wurden müde, während ich daran arbeitete. Ich wurde zunehmend nervöser und hatte keine andere Wahl, als der unbequemen Realität ins Gesicht zu sehen, die mir  einfach nicht aus dem Kopf ging. Meine Mutter war klein und selbst wenn sie auf dem Stuhl stand, konnte sie die Zimmerdecke nicht erreichen. Als ich größer als meine Mutter wurde, war es meine Idee gewesen, den Platz hinter der Decke als Stauraum zu verwenden. Seitdem war es meine Pflicht gewesen, Dinge aus der Kiste raus zu nehmen und rein zu tun. Deshalb wusste ich auch, wie viel meine Mutter verdiente, wie viel sie übrig hatte und wie arm wir waren. Und darin lag die Frage. Wer hatte das Geld und das Geschenk, welches ich gefunden hatte, hinter die Decke gestellt?

Der große Mann, der im Eingangsbereich auf mich herab gesehen hatte. Nick „Hurensohn“ Foley. Dieser Mann war in dem Zimmer meiner Mutter gewesen, während ich weg war.

Ich ließ die Arbeit sein, ging zum Telefon neben der Eingangstür und zog das Kabel aus der Station. Sie würden schon noch sehen, wie sauer ich war.

Alltag kehrte allmählich wieder ein. Ich ging zu meinen Lehrern, sprach mit meinen Freunden und sah Fernsehen. Ich dachte daran, das Geld zum Fenster rauszuwerfen. Doch als ich darüber nachdachte, dass es sich um Nick Foleys Geld handelte, entschloss ich mich dagegen. Nein. Die Wahrheit war, dass ich einfach nicht wusste, was ich damit tun sollte. Letztendlich legte ich das Geld in die Schultertasche und beschloss, es zu vergessen.

Ich konnte Nächte lang nicht schlafen. Den einen Abend kam ich auf die Idee ein Buch zu lesen. Lesen war das einzige Hobby meiner Mutter gewesen. In ihrem Zimmer waren einige Bücher, die sie bereits durchgelesen hatte. Ich nahm mir „Flucht aus Wutai – Teil 1“, weil es das letzte war, das sie gelesen hatte. Es war ein alter Roman, geschrieben während des Krieges. Der Anfang bestand aus einer Menge Szenen, in denen Wutaianer einige sonderbare Kampfkünste verwendeten, um die Gefangenen in den Lagern zu töten. Schließlich schafften es fünf Gefangene, einem dummen Wutaianer zu entkommen und flüchten aus dem Lager. Drei Männer und zwei Frauen. Es war ein Mann zu viel. Ich vermutete, dass einer wahrscheinlich sterben würde. Vermutlich dieser Schwachkopf von einem ShinRa-Militär-Offizier. Allerdings trotzte der Offizier meinen Erwartungen, lebte, begann, sich wie der Anführer aufzuführen und die anderen Vier herum zu kommandieren. Ich hoffte, dass er bald sterben würde. Mein Wunsch erfüllte sich fast am Ende des Buches. Der Offizier wurde von einer der Landminen, die die Wutaianer ausgelegt hatten, in Stücke gesprengt. Die Art wie er starb, schockte mich.

„Er wurde von einer wutaianischen Landmine in Stücke gesprengt.“

Dies war das Einzige, was meine Mutter mir über meinen Vater erzählt hatte. Vielleicht hatte sie dies aus dem Roman. Hatte sie meinen Vater auf diesen Mann projiziert, der dazu bestimmt war zu sterben? Dies war wahrscheinlich der Fall. Sie musste ihn wirklich gehasst haben. Ich bewunderte sie dafür, wie sie den Sohn eines solchen Mannes großziehen konnte. Nein. Ich war das Kind, das dieser Mann zurückgelassen hatte und welches sie, wenn die richtige Zeit gekommen war, ebenso verlassen konnte. Ich dachte, ich wurde geliebt, doch war dies nur eine Maske für ihren Hass. Ich warf „Flucht aus Wutai – Teil 1“ an die Wand. Als würde es mich noch interessieren, was mit den anderen Vier in Teil 2 passierte.

Ich ging zurück in das Zimmer meiner Mutter und betrachtete ihre Buchsammlung. Ich konnte an den Titeln erkennen, dass es sich bei allen um Abenteuerromane handelte. Auf den Titelseiten waren Illustrationen, die aussahen wie die Protagonisten. Es waren verschiedene Charaktere, aber alle waren Frauen. Meine Mutter liebte also diese Art von Roman. Die Art von Anblicken und Abenteuern, die in ihrem wahren Leben fehlten. Und, auch wenn ich daran nicht denken wollte, schien sie Romanzen zu lieben. War mit mir zusammen zu leben wirklich so langweilig gewesen? War es schmerzhaft gewesen?

Das reichte. Meine Mutter war verschwunden und ich wurde zurückgelassen. Ich würde einfach aufhören, an sie zu denken. Ich musste mehr über das alleine leben nachdenken.

Am nächsten Tag besuchte ich das Café, in dem sie gearbeitet hatte. Der Manager, ein Mann mit einer quadratischen Stirn und den breiten Schultern eines Retro-Roboters, beschwerte sich auf ganzer Länge über meine Mutter, die plötzlich gekündigt hatte. Ich hatte mich auf so etwas vorbereitet, doch es traf mich härter als erwartet. Nach einer Flut von Beklagen schien er sich wieder daran zu erinnern, mich zu fragen, weshalb ich hier war. Ich erzählte ihm, dass ich einen Job haben wollte. Der Weise nach zu urteilen wie das Gespräch verlief, vermutete ich, ich würde eine Absage erhalten. Doch der Manager rief auf der Stelle den Eigentümer an. Ich konnte nicht verstehen, was in seinem Kopf vorging, doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich nicht mal wusste, was in meiner eigenen Mutter vorging. Es war kein Wunder, dass ich einen Fremden nicht verstand.

Überraschenderweise konnte ich schon bald mit dem Arbeiten anfangen. Der Lieferwagen, der all das Essen und die Getränke zu den Läden des Eigentümers lieferte. Mein Job war es, sein Assistent zu sein. Mein Vorgänger hatte einen Job beim ShinRa-Konzern erhalten und voller Freude gekündigt.

Es war ein erfüllendes Leben. Das war die „Freude des Arbeitens“. Ich genoss die totale Veränderung der Situation. Natürlich gab es keinen Tag, an dem ich nicht an meine Mutter dachte. Dennoch war ich nicht mehr 24 Stunden 7 Tage die Woche davon betroffen. Ich schloss das Telefonkabel, 10 Tage nachdem ich es herausgezogen hatte, wieder an. Vielleicht hatte meine Mutter versucht, mich während dieser Zeit zu erreichen. Ebenso war es möglich, dass das Telefon klingelte, wenn ich außer Haus war. Das Telefon wäre aber nicht die einzige Möglichkeit gewesen, in Kontakt zu treten. Die Tatsache, dass sie sich nicht gemeldet hatte, war ein Zeichen dafür, dass sie mich wirklich zurückgelassen hatte. Aber wie auch immer. Mama, ich hoffe, du wirst glücklich. Ich genieße mein Leben. Es war nicht leicht für den Lastwagenfahrer zu arbeiten, doch ich wusste, dass er mich brauchte, wie niemand anderen sonst. Diese Erfahrungen konnte ich zuvor nicht machen. Unabhängig meiner schweren Bürde, machte ich mir um mein Herz keine Sorgen. Was das angeht, bin ich ebenfalls sicherer geworden. Was hältst du davon, Mama?

Ich fing an zu glauben, all dies würde so bleiben, doch die Situation änderte sich schlagartig. Der Sender schien von alleine umgeschaltet zu haben und dass mitten in der Show. Meteor war am Himmel über Midgar erschienen. Diese Etwas, das einfach so entgegen aller astronomischen Kenntnisse aufgetaucht war, sah aus wie eine gewaltige, schwarze Lücke im Himmel. Es gab Gerüchte, die besagten, dass die Welt in sieben Tagen unterginge. Gigantische Monster waren im Norden und um Junon herum aufgetaucht und selbst ShinRas wertvollen Waffen konnten diese nicht besiegen. In der Stadt herrschte Chaos mit zwielichtigen Gerüchten wie, man wäre sicher, wenn man sich in den Mako-Reaktoren versteckte oder es gäbe eine unterirdische Unterkunft, die ShinRa in Kalm errichtet hätte. Das Einzige, was jeder ganz sicher wusste war, dass Meteor Tag für Tag näher kam. Die Diskussionen über die Wahrheit von Meteor und wie man ihn abwenden könnte,  verstummten schon bald.

Der Eigentümer schloss seine Läden und verließ Midgar, die Nachbarschaft war erfüllt vom Lärm der Menschen, die sich auf die Evakuierung vorbereiteten. Meine Freunde, der Lieferwagenfahrer und meine anderen Arbeitskollegen fragten mich, ob ich nicht mit ihnen flüchten wollte, doch ich bedankte mich nur und lehnte die Angebote ab.

Meteor zu sehen brachte mich dazu, das erste Mal über den Tod nachzudenken. Anschließend war das Einzige, woran ich denken konnte meine Mutter und die ungünstigen Umstände, unter denen wir uns getrennt hatten. Würde ich das Haus verlassen, wäre es als ob ich jegliche Verbindungen zu ihr verlieren würde. Ich verbrachte die Zeit damit, mir die wenigen Bilder von ihr und mir anzuschauen. Sie waren alle bei einem Fotografen an meinen Geburtstagen aufgenommen. Ich stand neben meiner Mutter, allmählich erwachsen werdend. Nachdem ich größer als sie geworden war, begann ich ein mürrisches Gesicht auf den Bildern zu machen. Meine Mutter war immer am Lächeln. Ich betrachtete das lächelnde Gesicht und bemerkte, wie dumm ich doch gewesen war. Meine Mutter würde mich nie verlassen. All die Dinge, die ich hätte tun sollen, gingen mir durch den Kopf. Wäre ich zum  ShinRa-Konzern gegangen, hätte ich vielleicht herausgefunden, wo Nick Foley sich aufhielt. Womöglich hätte ich das Telefon sofort wieder angeschlossen und einen Anrufbeantworter installiert. Und dann kam mir die Antwort auf die Frage, über die ich nicht einmal versucht hatte nachzudenken in den Sinn. Die Absicht hinter all dem Geld hinter der Zimmerdecke. Wo auch immer es herkam, der Grund, warum sie das Geld hier gelassen hatte war, dass sie plante, direkt wieder zurück zu kommen. Oder vielleicht auch, damit ich es ihr bringe. Dies schien wahrscheinlich. Meine Mutter hatte nicht einmal darüber nachgedacht, eine lange Zeit von mir getrennt zu leben. Und dann war da mein Geburtstagsgeschenk. Meine Mutter nahm Geburtstage sehr ernst. Sie hätte irgendetwas geplant, sodass ich die Schultertasche am richtigen Tag bekäme. Sie hätte in dem Brief darüber geschrieben oder hätte das Geschenk an einen Ort gelegt, an dem es leichter zu finden war. Aber das hat sie nicht getan, weil sie plante, gleich Kontakt aufzunehmen. Ich hätte einfach den Mund halten und bei dem Telefon warten sollen. Die Freude des Arbeitens? Ich bin ein Idiot.

Und dann kam dieser Tag. Ich überlebte den Tag, an dem die Mako-Energie oder vielmehr der Lebensstrom an die Oberfläche trat und Meteor vernichtete. Sieben Tage lang wartete ich zu Hause auf meine Mutter. In der Nacht des siebten Tages ging ich nach draußen und ging von Midgar aus nach unten in die Slums.

Nun werde ich euch etwas erzählen, das zwei Jahre später geschah. Ich werde wahrscheinlich auch etwas über die Dinge reden, die während der zwei Jahre geschehen sind. Ich werde versuchen, den bestmöglichen Weg zu erwischen es zu erzählen, ohne zu sehr abzuschweifen. Doch wie ich schon sagte, bin ich nicht gerade gut im Treffen von Entscheidungen. Hoffentlich habt ihr ein wenig Geduld mit mir.

Ich werde außerdem manchmal Dinge erwähnen, über die ich eigentlich gar nichts wirklich wissen dürfte. In diesen Zeiten werde ich die Basisfakten nutzen und ein wenig meine Fantasie verwenden, um den Rest auszufüllen. Wie beispielsweise die folgenden Geschehnisse.