ShinRas Geschichte: Kapitel 1

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Tseng, Vorsteher von ShinRas Abteilung für innerbehördliche Aufklärung, deren Mitarbeiter im Firmen-Jargon nur als die „Turks“ bekannt sind, war damit beauftragt worden, aus dem alten Tempel der Cetra ein altertümliches Relikt – die Schwarze Materia – zu bergen. Doch bevor er diesem Auftrag hatte nachkommen können, war Sephiroth erschienen, um ihn mit einem gewaltigen Schwertstreich niederzustrecken. Dem Tode nahe, hatte er sich zu einer nahegelegenen Wand geschleppt. Dort angelehnt, verblutete er langsam. Als er mit dem Leben schon abgeschlossen hatte, tauchten auf einmal Aerith und ihre Freunde auf. Auch sie hatte die Jagd nach Sephiroth zu den Ruinen geführt.

Nachkommen des Alten Volkes aufzuspüren und seinem Arbeitgeber nach eigenem Ermessen in jederlei Hinsicht bestmöglich zu unterstützen, war lange Zeit seine Aufgabe gewesen. Manchmal setzte ihm die rohe Gewalt seiner Untergebenen zu, doch nach den Maßstäben von ShinRa führten die Turks ihre Befehle geradezu behutsam aus. Einst hatte er versucht, die Mutter von Aerith gewaltsam zur Kooperation zu zwingen, was den Tod der Frau zur Folge gehabt hatte. Dies hatte seine Prinzipien erschüttert und ließ ihn seither häufig über seine Taten nachdenken.

Aerith war in dieser Welt die letzte Nachkommin des Alten Volkes. Tseng glaubte, auch im Bewußtsein seiner Schuld, daß er als Repräsentant von ShinRas dunkler Seite nicht würdig war, dieses herrliche Geschöpf auszuliefern. Daher hatte er sich entschlossen, das Mädchen lediglich unter Beobachtung zu halten.

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Sie war noch ein Kind gewesen, als sie ihn das erste Mal angesprochen hatte.

„Ich danke dir.“

Tseng machten diese Worte mißtrauisch. Da Aerith spürte, wie angespannt Tseng auf einmal geworden war, fuhr sie fort: „Du bist doch der, der auf mich aufpaßt, oder?“

In Anbetracht seiner wahren Befehle wäre es wohl ratsam gewesen, die Situation auszunutzen und das Mädchen anzulügen. Doch Tseng wollte ihr die Wahrheit sagen. Tatsächlich war Tseng in seinem bisherigen Leben noch nie so aufrichtig gewesen, wie jetzt in diesem Moment.

„Ich bin Tseng und arbeite für den ShinRa-Konzern. Ich habe mit dir zu reden.“

„Ich hasse ShinRa!“

Er musterte die kleine Gestalt, die vor ihm davonrannte. Tseng dachte, daß es so am besten wäre. Irgendwie war er sogar erleichtert, denn tief im Inneren spürte er, daß er sie niemals würde anlügen können, auch dann nicht, wenn der Tag gekommen wäre, an dem er sie holen würde.

Doch dann, Jahre und Begegnungen später, kam Aerith in Kontakt mit der Anti-ShinRa-Organisation AVALANCHE. Das änderte alles. Tseng wurde zornig, da er die Kontrolle über die Situation verloren hatte. Seine Haltung gegenüber Aerith nahm eine erschreckende Feindseligkeit an, die sogar seine Mitarbeiter erstaunte.

Immer wieder sagte er sich, daß diese Bösartigkeit nicht nur gespielt sei: Für Aerith ist ShinRa das Böse schlechthin. Die Bösen tun Böses.

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Als sie ihm nun also im Moment seines Todes gegenüberstand, konnte er nur der zornige Turk, kein Freund, sein.

„Aerith in Ruhe zu lassen war der Anfang… meines… Ungücks.“

Trotzdem konnte Aerith die Tränen nicht zurückhalten. Für sie war Tseng nie einer von den Feinden gewesen, vielmehr ein Freund und Beschützer aus Kindertagen. Jetzt kam Tseng diese Art des Abgangs gar nicht mal so schlecht war. Mit Mühe brachte er sogar einen Scherz über die Lippen:

„Ich bin noch nicht hinüber.“

Als Aerith fort war, bereitete sich Tseng auf das Ende vor. Friedlich wartete er auf den Tod. Doch er kam nicht. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe, aber das Gefühl, mit dem Lebensstrom Eins zu werden, stellte sich nicht ein.

Reeve rettete Tseng. Er kontrollierte aus der Ferne eine sonderbare Roboterkatze, die mit ihrem riesigen Moogle, auf dem sie ritt, plötzlich vor Tseng stand. Mit dieser Roboterkatze hatte Reeve Aerith und ihre Freunde ausspioniert.

„Das war wirklich knapp, Herr Tseng.“

„Wo ist die Schwarze Materia?“

„…“

Das Blechding blieb eine Antwort schuldig. Seine Glieder versteiften, als hätte jemand den Stecker gezogen. Dann fand es die Sprache wieder: „Entschuldigen Sie bitte. Ich kontrolliere im Augenblick Nr. 1 und Nr. 2 gleichzeitig. Ganz schön schwierig.“

„Verstehe.“

In Wirklichkeit hatte Tseng keine Ahnung, wie es war, zwei Roboter gleichzeitig zu bedienen, aber er geduldete sich, um Reeve nicht bei der Arbeit zu stören, und wartete, bis die Katze von sich aus das Gespräch fortsetzen würde.

„Ich habe die Schwarze Materia vorläufig Cloud gegeben. Dies erschien mir sinnvoller, als sie Sephiroth zu überlassen.“

Cloud. Er war das fehlende Glied, das alle Ereignisse verband. Ihn umgab ein Geheimnis, dessen Lösung Tseng noch finden mußte. Doch im Moment war er ein notwendiges Übel. Er ist noch ein Kind. So sehr er sich auch anstrengte, Tseng wußte einfach nicht, worauf das alles hinauslaufen würde. Aber zumindest würde Cloud dafür Sorge tragen, daß die ultimative schwarze Magie, Meteor, nicht benutzt wurde.

„Cloud hat also die Materia. Ich verstehe.“

„Was sie angeht, werter Herr Tseng. Ich werde Hilfe verständigen.“

„Gut.“

„Eine Sache noch: Ich wurde als Spion enttarnt, habe aber Vorkehrungen getroffen, um bei Clouds Truppe bleiben zu können. Diese Leute sind ein ungewöhnlicher Haufen. Ich bin sehr an ihren nächsten Schritten interessiert. Also gut, sehen wir zu, daß wir Sie hier rausschaffen.“

Tseng hatte so viele Fragen, die einer Antwort bedurften, aber als der riesige Moogle ihn packte, wurde er von den Schmerzen überwältigt und fiel in tiefe Bewußtlosigkeit. Wie Cait Sith ihn noch rechtzeitig aus dem Tempel schaffte, kann er bis heute nicht sagen.

Drei Männer hievten Tseng in ein Boot. Er hatte früher mit ihnen gearbeitet. Warum hat Reeve sich an diese Leute gewandt, statt direkt an die Firma? Ihm war es nie gelungen, noch einmal Kontakt mit diesen Männern aufzunehmen. Frage um Frage raste durch Tsengs Verstand, aber seine Kraft reichte nicht, auch nur eine zu formulieren. Viel Zeit verging, während er dahindämmerte. Dann erwachte er in einem kleinen Raum. Dieser einprägsame Duft, eine Mischung aus Gezeiten und dem Rost gigantischer Stahlträger, der in seine Nase drang, verriet ihm seinen Aufenthalt: Man hatte ihn nach Junon gebracht. Sofort war ein Arzt zur Stelle, der sich um ihn kümmerte.

*** *** ***

Kurz nach Tsengs Entlassung wurde Aerith ermordet. Sephiroth brachte die Schwarze Materia in seinen Besitz. Der Meteor wurde beschworen.

Es hieß, daß er binnen drei bis maximal sieben Tagen alles Leben auslöschen würde. Was dann tatsächlich passierte, war nicht viel besser; daß es so kommen würde, hatte niemand voraussehen können.

*** *** ***

Sie trafen sich in Midgar, Sektor null, nahe dem ShinRa-Gebäude.

Drüben, in Sektor acht, hatte man in aller Eile eine gefährliche Waffe, die „Sister Ray“, aus Junon herangeschafft und die Kanone notdürftig auf eisernen Trägern installiert. Ihre letzte Hoffnung gegen Sephiroth. Die Sister Ray war an die Hauptleitungen angeschlossen worden, welche Mako-Energie durchströmte. Indem man diese mächtige Energie mit der Kraft einer Großen Materia koppelte, hoffte man Sephiroth und alle Feinde des Konzerns ein für allemal auslöschen zu können. Die Kanone war zum Nordkrater hin ausgerichtet, wo Sephiroth schlief. Man glaubte, daß nach Sephiroths Tod auch der Meteor, dieser Gestalt gewordene Alptraum am Himmel, Vergangenheit sein würde. Auch würden die Weapon-Monster verschwinden, wenn die Gefahr für den Planeten gebannt war, tröstete man sich.

„Eigentlich ist es perfekt“, bemerkte Rude, während er die Sister Ray betrachtete.

„Eigentlich? Und uneigentlich?“ Reno hatte einen ernsten Ton angeschlagen, den man selten bei ihm hörte.

„Ich mache mir eben meine Gedanken.“

„Dann bin ich beruhigt.“

„Was redest du da?“, wollte Rude wissen.

„Ich dachte schon, ich wäre der einzige, der sich Sorgen macht. Ich meine, wollen wir ernsthaft dieses Ding abfeuern? Ohne Tests? Wird Midgar das überstehen?“

„Soll ich lügen, und sagen, daß alles glattgeht?“ Ein harter Unterton hatte sich in Rudes Antwort auf diesen Redeschwall geschlichen.

„Alter, beruhig dich mal.“

Es stellte sich letzten Endes heraus, daß die Sister Ray ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte und als ein großer Haufen Schrott endete.  Zur gleichen Zeit wurde die Chef-Etage im ShinRa-Gebäude unter dem Dauerfeuer der Weapon zerstört. Reno und Rude waren den Anblick zerstörter Häuser gewohnt. Doch der Anblick des Hauptquartiers traf sie tief. Die beiden waren so gut wie nie im Büro, denn  ihre Missionen führten sie auf lange, anstrengende Reisen durch die ganze Welt. War es da ein Wunder, daß ihnen das Hauptquartier nach der Rückkehr von einer dieser Mission wie ihr Zuhause vorkam?

All diese Strapazen, die sie gemeinsam mit ihren Kameraden überstanden hatten, die Momente, wenn ihnen ihr Vorgesetzter den Kopf zurechtrückte, die Zeiten, da sie mit den Mädels rumgealbert hatten, weil ihnen langweilig war, nur um es später von ihnen heimgezahlt zu bekommen. Das waren ihre Erinnerungen an diesen Ort. Draußen war der Schalter immer umgelegt, doch dort drinnen, im Büro, konnten sie endlich abschalten. Das war das genaue Gegenteil von dem, was alle anderen Angestellten empfanden, aber wen kümmerte das schon. Das ShinRa-Gebäude bedeutete Reno und Rude sehr viel.

Ihre Unzufriedenheit wuchs noch, als sie hörten, daß der Präsident vermißt wurde.

Mehrere Zeugen wollten gesehen haben, wie Weapons Feuer das Führungsbüro verheert hatte, doch nicht einer konnte mit Sicherheit sagen, ob der Präsident wirklich nur verschwunden war, oder ob ihm schlimmeres geschehen war. Schlimmer noch, keiner wußte, wie es um die übrige Führungsriege bestellt war, und niemand fühlte sich verantwortlich. ShinRas straffe Organisation war einem Chaos gewichen, nachdem angesichts der Meteorkatastrophe viele Angestellte der Firma den Rücken gekehrt hatten.

Reno und Rude hatten das Gefühl, es käme ihnen zu, sich um den Präsidenten zu kümmern. Also warteten sie vor den Aufzügen. Da die bevorzugten Fahrstühle zu den oberen Stockwerken defekt waren, versuchten sie es beim Personalaufzug.

„Das Ding rührt sich nicht.“

„Scheint so, als wäre das Sicherheits-Blockier-System aktiv.“

„Na, das haben die ja toll hingekriegt.“

„Reno, Rude. Nehmt doch die Treppe.“

Angesichts der ungewohnten Stimme wechselten die beiden einen Blick. Dann sahen sie sich nach der Person um, die sie angesprochen hatte und erblickten sie: die vertraute Gestalt mit den langen Haaren hatten sie als letztes erwartet.

„Chef!“, entfuhr es ihnen.

Man hatte ihnen gesagt, daß Tseng gefallen war. Elena hatte damals auf eigene Faust die Verfolgung von Cloud und seinen Leuten aufgenommen, um Rache zu nehmen. Natürlich hatte sie versagt, und als sie, in schlechter Verfassung, nach Midgar zurückgekehrt war, schienen Rachephantasien ihren Verstand zu benebeln.

Jedenfalls hatten alle Mitglieder der Turks geglaubt, Tseng sei tot.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Tseng die verblüfften Männer.

„Chef, Sie leben.“

„Wovon Sie beide ausgehen können. Aber jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen.“

„Yeah“, erwiderte Reno, wobei er mehrmals heftig mit dem Kopf nickte, als wenn er damit bekräftigen wollte, daß Erklärungen überflüssig seien.

„Chef!“, vernahmen sie die Stimme einer jungen Frau. Als sie sich umdrehten, stand Elena vor ihnen. Das jüngste Mitglied der Turks machte keinen Hehl aus ihrer schieren Freude, den tot geglaubten Chef wiederzusehen. Sie machte einen großen Satz und schlang ihre Arme um Tseng.

„Ach, Elena. Du weißt genau, daß ich Tseng umarmen wollte“, sagte Reno.

„Dann tu’s doch, geschätzter Kollege.“

„Ich passe.“

Tseng löste sich aus der Umarmung, legte eine Hand auf Elenas Schulter und nahm seine drei Mitarbeiter genau in Augenschein.

„Also los. Wir haben Arbeit zu erledigen.“

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